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Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr

Die Last der Vergangenheit

Leon de Winter ist kein politischer Schriftsteller. Er ist ganz sicher politisch engagiert und motiviert, doch in seiner Literatur spielte das bisher eine eher untergeordnete Rolle. Das muss man wissen, wenn man zu seinem neuen Roman "Das Recht auf Rückkehr" greift, der hauptsächlich im Israel des Jahres 2024 spielt. Visionen zur Zukunft des Heiligen Landes sind jedoch zwangsweise politisch, da sie ihren Fixpunkt in den gegenwärtigen Zuständen haben. Leon de Winters Literatur muss daher erstmals auch nach politischen Maßstäben bewertet werden.

Im Zentrum des neuen Buches stehen gleich mehrere katastrophale Ereignisse. Das auf einen Landstrich an der Mittelmeerküste um Tel Aviv zusammengeschmolzene Land wird von einer Serie von Selbstmordanschlägen erschüttert. Diese Attentate bringen die in dem territorialen Zwergstaat lebende Bevölkerung in Aufruhr. Denn für Nicht-Juden ist es unmöglich, die Grenze unauffällig zu überqueren. Elektronische Lesegeräte durchleuchten in de Winters Utopie alle Personen, die sich den israelischen Grenzposten annähern. Wer jüdische DNA besitzt, kann die Grenze ohne Probleme überschreiten. Nicht-Juden müssen sich einer strengen Kontrolle unterziehen. Araber und Palästinenser können gar nicht in den jüdischen Rumpf-Staat einreisen. Die Attentäter aber kamen unbemerkt durch die elektronischen Grenzkontrollen. Sollten also tatsächlich Juden Anschläge auf Juden ausführen? Oder haben nicht-jüdische Terroristen einen Weg gefunden, die Grenzkontrollen zu umgehen?

Diese düstere, geradezu faschistoide Vision eines nicht allein ethnisch, sondern genetisch abgeschotteten Israels hat ihren Bezug im hier und heute. Die alltägliche Bedrohung des jüdischen Staates durch die arabische Welt ist für de Winter ein unwiderlegbares Faktum. Die Konsequenzen, die er daraus zieht, kann man in seinem neuen Roman nachlesen. Israel braucht eine radikale Abgrenzung. Als Privatperson verteidigt er daher bei jeder Gelegenheit den jüdischen Staat und schwingt sich zugleich zum obersten Islamkritiker auf. In einem Spiegel-Interview ließ sich de Winter einst sogar zu der Aussage hinreißen, dass der Islamismus nach "dem linken Faschismus der Sowjets" und dem "rechten Faschismus der Nazis" "der Faschismus des 21. Jahrhunderts" sei. Wer solche Dinge äußert, kann nicht als gemäßigt oder annähernd neutral eingeschätzt werden. Diese Meinung ist de Winters Reaktion auf die aktuellen Verhältnisse im Nahen Osten.

In dieser judenfeindlichen Region nimmt der zweite Teil der Erzählung seinen Ausgang. Zeitlich vorgelagert wird darin von dem Schicksal der Familie des israelischen Professors Bram Mannheim erzählt. Als renommierter Historiker folgt er 2004 einer Berufung und wechselt aus Tel Aviv an die Eliteuniversität im amerikanischen Princeton. Gemeinsam mit seiner Frau Rachel und seinem Sohn Bennie verlässt er wie so viele ein politisch zunehmend schwächeres und unter Druck geratendes Israel. In Kalifornien will er sich ein neues Leben aufbauen, statt sich und seine Familie der täglichen Gewalt und Radikalisierung auszuliefern. Doch statt einem ruhigeren Leben ereilt ihn ein Schicksalsschlag von ungeahntem Ausmaß. In einem Moment der Unaufmerksamkeit verschwindet sein inzwischen vierjähriger Sohn Bennie. "Rechtlich gesehen war er unschuldig, aber nach Rachels - und seinen eigenen - Maßstäben war er so schuldig, wie es ein Mensch nur sein konnte."

An dieser Katastrophe zerbricht Mannheims Ehe, der einstmals erfolgreiche Professor fällt in einen Zustand der Unzurechenbarkeit und des Wahns. Zwei Jahre irrt er als anonymer Obdachloser durch die USA. Dabei flüchtet er sich in kaum nachvollziehbare Kolonnen von Primzahlen, die seinem durch den Verlust seiner Familie sinnlos gewordenem Leben zumindest Rahmen und Halt geben sollen. Ein Zufall führt dazu, dass seine Identität entlarvt wird und er nach Israel zurückkehrt.

An dieser Stelle lässt Leon de Winter seine Romanfiguren wieder in die Zukunft springen, die er allerdings kaum mit Elementen der Science-Fiction-Literatur zu füllen vermag. Leider mangelt es in seinem Roman sowohl an adäquatem technischem Fortschritt, als auch an der Anpassung der fiktiven Welt an die absehbaren Folgen des Klimawandels in der Region.

Im Jahr 2024 pflegt Mannheim seinen inzwischen dementen Vater und betreibt eine Agentur, die jüdischen Eltern hilft, ihre verschwundenen Kinder aufzuspüren. Im ersten Moment meint man, de Winter mache es sich hier ein wenig einfach, um das Trauma seiner Romanfigur literarisch zu verwerten und die zeitlich getrennten Teile seiner Erzählung zu verbinden. Doch relativ schnell wird deutlich, dass es ihm hier nicht darum geht, seinen Protagonisten den Verlust des eigenen Kindes durch Aktionismus aufarbeiten zu lassen. De Winters Konstrukt geht wesentlich tiefer, versinkt in Generationen, Orten und Zeiten, so dass die Verbindung zwischen den einzelnen Romanteilen den Leser lange Zeit vor Rätsel stellt.

Wie de Winters frühere Romane weist auch dieser zahlreiche autobiografische Züge auf. Der Ich-Erzähler ist wie so oft männlich und niederländischer Herkunft. Die Erzählung spielt im bekannten israelisch-amerikanisch-jüdischen Kontext, den der Autor aus seinen eigenen Lebenserfahrungen kennt. Biografisch ist der Roman aber auch, weil de Winter damit seinem persönlichen Plädoyer für den jüdischen Staat einen Teppich auf 550 Seiten ausrollt. Das aktuelle Ausmaß der Bedrohung Israels durch Islamisten im Nahen Osten, wie er es wahrnimmt, bildet den Ausgangspunkt seines Romans, an dessen Ende ein auf einen schmalen Streifen geschrumpftes Land steht. In seiner Israelvision für das Jahr 2024 lebt ein ausschließlich jüdisches Volk in einem klaustrophobischen Dauerzustand, nach außen hin abschottet und auf den Erhalt der eigenen, genetisch dispositionierten Gruppe fokussiert. Selbstreferenz als Daseinsberechtigung.

Dieser Roman hat jedoch keinen politischen Charakter, dafür ist er viel zu eindimensional. Eine annähernd realistische Beschreibung des Ist-Zustandes im Dauerkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern oder einen glaubhaften Ausblick in die nahöstliche Zukunft gibt es in de Winters aktuellem Buch nicht. Stattdessen ist es gespickt mit Provokationen. "Man sollte sie vergiften. In Jerusalem und in Mekka […]. Danach alles plattmachen. Den Tempelberg und diesen Steinhaufen in Mekka. Einkaufszentren draufstellen. Vollklimatisiert. Schöne Geschäfte. "Victoria’s Secret’. "Starbucks’." Insofern ist all jenen von de Winters Buch dringend abzuraten, die sich eine ernstzunehmende politische Aussage davon erhoffen.

Warum sollte man "Das Recht auf Rückkehr" dennoch lesen? Weil de Winter einen ungemein spannenden und genialen Plot erfunden hat, der unabhängig von der unzureichenden Beschreibung der nahöstlichen Realitäten zu beurteilen ist. Er zieht seine Leser auf den ersten Seiten in einen magischen Bann und entlässt sie nicht, bevor sie die letzte Seite umgeschlagen haben. "Das Recht auf Rückkehr" ist ein Thriller allererster Güte, dessen Qualität einzig darunter leidet, dass er an einen Ort gebunden ist, über den man heute weder unpolitisch schreiben noch lesen kann. Wenn Literatur heute allerdings noch gesellschaftspolitisch wertfrei sein darf und Spannung ein Maßstab sein kann, dann ist dieser Roman zweifelsohne empfehlenswert.


von Thomas Hummitzsch - 06. Februar 2010
Das Recht auf Rückkehr
Leon de Winter
Hanni Ehlers (Übersetzung)
Das Recht auf Rückkehr

Diogenes 2009
Originalsprache: Niederländisch
549 Seiten, gebunden
EAN 978-3257067330