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Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter

Eine sehr bunte Familie

Von Russen in Deutschland erzählt die Schriftstellerin Alina Bronsky, 1978 in Jekaterinburg geboren und in Berlin zu Hause, so in "Scherbenpark" oder in "Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche". Auch in ihrem neuen Roman stellt die Autorin eine kunstvoll verwebte, aber mitnichten so akkurat und traditionell wie ein russischer Zopf geflochtene Familiengeschichte vor – mit Brüchen, Überraschungen und Eigenheiten. Alina Bronsky berichtet von Max, der in der Obhut seiner Großeltern aufwächst. Streng, entschlossen und robust versuchen sie, in der neuen Heimat Deutschland anzukommen.

Als "Kontingentflüchtlinge" erreicht die bunte Familie Deutschland. Juden aus Russland, nach Deutschland übergesiedelt? Die Großmutter bekennt sich zum Antisemitismus. Zunächst lebt die Familie in einem schäbigen Wohnheim. Die "neu gebaute, leuchtende Synagoge" bewundert die Großmutter dann trotzdem, aber gegenüber Fremden ist sie sehr misstrauisch: "Menschen, die ihre Heimat verließen, waren ihr suspekt, solange es sich nicht um sie selbst handelte."

Der Großvater verliebt sich schnell, in Nina, eine Klavierlehrerin. Der kleine Max mag Mädchen, auch wenn sie – wie Ninas Tochter Vera – nicht besonders nett zu ihm sind. Deutschland gefällt ihm: "Überall gab es Frauen. … Ich hatte immer schon an Frauen gedacht, wenn ich spürte, wie eine eiskalte Klaue sich um mein Herz legte. … Die verrinnende Zeit wie eine Gänsehaut spürend, wollte ich so viel Schönheit wie möglich in mich aufsaugen. An Frauen fand ich alles wunderbar." In Max' Paradies leben nur Mädchen – und seine skeptische Großmutter, die er aber nicht als Frau ansieht. Auch die erste Klassenlehrerin, die er kennenlernt, ist eine nette junge Dame. Die Großmutter traut ihr nicht, sie traut eigentlich niemandem. Erwartet hat sie ein strenges Regiment, nicht eine freundliche Person. Sie erstreitet sich einen Platz in der letzten Bank, um Max im Unterricht zu beobachten, zu betreuen und zu beschützen. Die deutsche Sprache überfordert sie, die Aufgaben der Schüler nicht weniger. Irritiert ist sie, dass die Schüler während des Unterrichts essen und trinken dürfen – und dass niemand die Hände der Kinder auf Keime hin untersucht. Die Großmutter bleibt in endzeitlicher Stimmung, aber die Welt geht nicht unter, noch nicht. Die rätselhaften Fremden hassen Max auch nicht: "Niemand wollte wissen, wie viel Prozent Jude ich war." Aber seine Sitznachbarin Vera, Ninas Tochter, ärgert ihn unentwegt. Er hält das aus. Max' Großvater liebt Nina, und auch Max mag sie sehr gern: "Nina war die sanfteste Person, der ich je begegnet war. Ich spürte, wie die Anspannung von mir abfiel, sobald ich ihre Wohnung betrat. Ich vermutete, dass es dem Großvater ähnlich erging." Sie ist nun seine Klavierlehrerin. Ihre Wohnung fühlt sich an wie "das zweite Zuhause meines Großvaters". Auf Max wirkt der Klavierunterricht "wie ein Ausflug in eine Welt, in der ich nicht zu Hause sein durfte".

Die Ahnungen der Großmutter reichen weit. Sie irrt sich häufig, so deutlich sie sich auch äußert. Max stellt fest, dass Süßigkeiten oder Erdbeereis, die "bunte Welt des verbotenen Essens", gar nicht giftig sind. Dann wird Nina schwanger und die Familie etwas größer und noch bunter als zuvor. Auch um das Neugeborene sorgt sich die Großmutter: "Wir sahen Nina und den Großvater schon von weitem. Sie standen vor dem Hauseingang, und Nina, die ich seit Monaten nicht gesehen hatte, wirkte dick und abgemagert zugleich. Zwischen dem Großvater und ihr stand ein klotziger Kinderwagen, der mit einem weißen Tuch abgedeckt war." Die Großmutter gibt "letzte Anweisungen": "Abstand zum Neugeborenen. Jeder Keim kann es umbringen." Max lernt ein Baby kennen. Es ist sein Onkel und heißt Tschingis. Eine Reihe von Wendungen erlebt die Familie. Für den Vater des Kindes wird nach einer gewissen Zeit eine Reise in die Dunkelheit beginnen. Zuvor aber freut sich die Großmutter, unerwartet, über das Baby und erlebt das "schönste Weihnachtsfest ihres Lebens". Max mag die "ruhigen Tage", Weihnachten versteht er nicht. Auch nach dem Tod des Großvaters, von Nina heftig betrauert, geht das Leben weiter. Die Großmutter sagt noch zu ihr: "Das ganze Geheule bringt ihn nicht zurück, weißt du. Das sage ich ihr, aber es hilft nicht. Heult noch mehr." Nina bleibt untröstlich. Die beiden Frauen gehen, die Witwe und die Liebhaberin, gemeinsam zum Grab.

Im Grunde erzählt Alina Bronsky eine sehr rätselhafte Geschichte, mit traurigen und komischen Momenten, eine Geschichte über rätselhafte Menschen, die aus einem fernen Land nach Deutschland gekommen sind. Sie schenken einander auf unvollkommene Weise Obdach, auch wenn sie sich nicht ganz verstehen, vielleicht auch nicht verstehen können. In zarten, unvollkommenen, fast unsichtbaren Gesten deutet sich an, dass diese Familie in Liebe verbunden sein könnte – und dass die neue Heimat, die die Einwanderer aus Russland nicht gesucht, aber gefunden haben, den Namen "Patchwork" trägt. Max' Großmutter würde das energisch und empört abstreiten, ohne zu wissen, was "Patchwork" eigentlich bedeutet. Auf eine eigensinnige, berührende Art erzählt Alina Bronsky eine Geschichte über Warmherzigkeit, Liebe und Heimat.


von Thorsten Paprotny - 10. Oktober 2019
Der Zopf meiner Großmutter
Alina Bronsky
Der Zopf meiner Großmutter

Kiepenheuer & Witsch 2019
224 Seiten, gebunden
EAN 978-3462051452