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Tamar Halpern: California Girl

Das meistgefeierte Jahrzehnt

"Rad" - so der Originaltitel dieses Romanerstlings - ist laut der Autorin und Filmemacherin Tamar Halpern die Abkürzung von "Radical". Es beschrieb in der Surfer-Kultur Südkaliforniens das Gefühl, "wenn man eine Welle voll erwischte und eins mit ihr wurde". Genauso ergeht es auch ihrem California Girl, einem vierzehnjährigen Mädchen, das zwischen ihrer Hippie-Künstlerin-Mutter in L.A. und dem Professoren-Vater in Berkley hin und her pendelt. Im Flugzeug.

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Eigentlich spielt das Buch in den 80er-Jahren, aber irgendwie ist es ganz von den 60ern beeinflusst und zeigt, was aus den Kindern der Babyboomer wird, wenn sie sich im Stadium der Adoleszenz befinden. Die freie Liebe, die noch bei ihren Eltern gang und gäbe war, verkommt zunehmend zu einem Swingerstatus oder eben Ehebruch. Der Unterschied dabei ist lediglich, dass bei ersterem nur einmal mit derselben oder demselben gepennt wird. Aber Untreue zum Prinzip erhoben, hat so gar nichts mit den Idealen der 60er zu tun, dass bald auch die Protagonistin dazu überredet wird, ihre Jungfernschaft zu verlieren: "Über uns scharren die Palmen an den Stromleitungen. (...) Neuerdings ist Sex überall, späht um die Ecke oder schleicht sich von hinten an, wenn ich am wenigsten damit rechne." Bald findet sie auch heraus, dass erwachsen werden vor allem bedeutet, zu lügen und dass eigentlich alle lügen. "Selbst die Menschen die dich lieben, lügen dich an", begreift sie und beteiligt sich alsbald selbst daran. Als sie ein Nachbarsjunge das erste Mal unten lecken will - vor dem sie sich eigentlich unglaublich graust - ist auch dieser enttäuscht und entgegnet ihr entrüstet: "Du schmeckst nach Seife." Also auch der erste Sex: Lüge. Aber dennoch lautet das eigentliche Mantra: "Lass die Freak-Flagge fliegen!". Zur Musik der Schallplatten ihrer Mutter wird sie dann entjungfert, aber auch das ist eine Lüge. "Bong Long, Die High!" entspricht dann schon eher ihren Teenagerträumen, denn sie kifft fast die ganze Zeit. "Die Lichter der Anlage sind unsere Sterne. Die Musik ist der Klang des Universums in seiner pulsierenden, betörenden Schönheit."

Teenage-Angst in den 80ern

Ein grandioses Werk also, das vor allem durch seine sprachliche Authentizität besticht, vielleicht weniger durch die Handlung. Aber wer sich an seine eigene Pubertät erinnert, wird wissen, dass einem damals zwar alles sehr aufregend vorkam, sich im Rückblick diese Jahre aber doch als viel weniger herausstellen als sie es eigentlich waren. Aber wer das alles verdrängt, was damals geschah, den wird es ohnehin unweigerlich wieder einholen, spätestens dann, wenn die eigenen Kinder in die Pubertät kommen. "Wenn wir uns unterhalten, will er immer in die Tiefe gehen, egal ob wir high sind oder nicht." Auch so ein wunderbarer Satz, den man so oder so sehen kann. Im Anhang befindet sich noch so eine Art Lexikon, "Fußnoten", in dem man Begriffe nachschlagen kann, die das Verständnis des Lebens im San Fernando Valley in den 80ern erklären. Neben dem eingangs erwähnten "RAD" finden sich dort auch Begriffe wie "Cul de Sac" oder "Swinger" oder "War on Drugs" oder "Reggae",  "Äther" und "Dalkon Shields" sowie "Moustache Café". Letzterer Eintrag beinhaltet auch ein Rezept für das berühmte Choco Soufflé aus besagtem Café. Kurzum: die 80er feiern ihr fünftes Jubiläum und ihr viertes Comeback. Kein Jahrzehnt wird derzeit durch so viel Serien und Bücher gewürdigt wie das letzte Jahrzehnt des Kalten Krieges. Ob dabei auch etwas Nostalgie mitschwingt? Zumindest waren die Rollen klar verteilt: dort das Reich des Bösen, hier der Westen, der Reichtum, die Dekadenz. Oder doch die Depression? Ein köstlicher Beitrag zum meistgefeierten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts!


von Juergen Weber - 19. Oktober 2023
California Girl
Tamar Halpern
Sophie Zeitz (Übersetzung)
California Girl

Diogenes 2023
Originalsprache: Englisch
304 Seiten, gebunden
EAN 978-3257072549