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Alexander Broicher, Carsten Regel: SED, LSD und ein Hippie Mädchen

Kalter Krieg – heiße Herzen

Der "Summer of Love" prägte eine ganze Generation...und im Grunde auch die nachfolgende. Punk war eine Reaktion auf die Träume und Utopien der 68er.

Was blieb übrig von der Hippie-Generation, von freier Liebe, Drogen und Friedensbewegung? Und wie betrachteten sich gegenseitig die westdeutschen Linken und die real existierenden Linken im sowjetischen Sektor? Dieser Frage geht das bewährte Autorenduo Broicher/Regel in gewohnt humorvoller und temporeicher Fahrt durch Rausch und Sinne in ihrem neuesten Werk "SED, LSD und ein Hippie Mädchen" auf 290 Seiten nach.

Von Blumen zu Blei

Die Love&Peace-Bewegung, die für ein paar Jahre Happenings, Sit-ins und Drogenrausch als Lifestyle etablierte, aber auch Idealisten zu Ideologen formte, ist mittlerweile über ein halbes Jahrhundert her. Was blieb von Hippies und Studentenbewegung übrig? Der Traum einer besseren, linken Welt vom Hindukusch bis in den Laurel Canyon gipfelte in der alten Bundesrepublik im blutigen, deutschen Herbst 1977, in die Hybris einer RAF und in die Abwehrreaktion eines bleiernen Staates. In New York und London lehnten die Kids Endlosdiskussionen und Endlosgitarrensoli durch die harte, brachiale und kurze Form des Rock 'n' Roll, des Punk, ab. Und im Nahen Osten entwickelten erstmals nach dem zweiten Weltkrieg islamistische Gruppierungen die Blaupause kommender Terrorpolitik, stürzten im Iran den Schah und seine Familie vom Pfauenthron und initiierten eine bald um sich greifende Religionsjunta. Diese Entwicklung war sicherlich nicht im Sinne einer Joan Baez oder eines John Lennon, Ikonen der Hippie-Ära. Eher vielleicht die Gründung einer damals neuen, grünen Partei, die im Humus der westdeutschen 1968er wurzelte. Doch schon die Attentate auf Studentenführer und SDS-Sprecher Rudi Dutschke und den Studenten Benno Ohnesorg zeigten, dass sich die Gesellschaft am 68er-Zeitgeist nicht nur in Happenings zusammenraufte, sondern leider auch spaltete. So fand die bis heute währende Radikalisierung ganzer Gesellschaftsbereiche, religiöser Fanatiker, militanter Sektierer und isolationistischer Reaktionäre ihre Saat in der 68er-Bewegung denn: Erstmals gelang es einer ganzen Generation vorwiegend westlicher Jugendlicher, durch die bloße Inszenierung ihrer selbst, Pop-Kultur und Aktionismus, die Eltern-Generation, den Staat generell, zu provozieren und zu einer Reaktion zu zwingen.

Das Entdecken der Selbstbestimmung

Genau diese Stimmungslage hat das mittlerweile legendäre Autorenduo Alexander Broicher und Carsten Regel in ihrem jüngsten Roman fein analysiert: Es ging einer ganzen Generation eben nicht nur um Politik und Utopien, sondern auch um Lebenslust, um freie Liebe, um Selbstbestimmung. Um das Ausprobieren des eigenen Lebens. Wenn schon nicht die ganze Welt gleich entdeckt werden kann, dann wenigstens der eigene Körper. Junge Frauen wollten sich nicht sofort binden und mit dieser Haltung auch nicht als Aussätzige gelten. Junge Männer nicht ungefragt den Dienst an der Waffe ausführen und damit als unmännlich gelten. Junge Paare nicht gleich heiraten und in den Stand der Ehe ziehen. Nein. Und es gab plötzlich die Pille, den Ersatzdienst und die sexuelle Revolution. Dazu lauter neue Rockbands, den Mini und lange Haare auch für Männer. Man sprach auf einmal offen von Homosexualität und der Wirkung von Cannabis. Alles einzeln betrachtet heute keine große Sache. Aber 1967, dem Jahr, in dem die Erzähler Regel und Broicher ihren Ost-West Roman ansiedeln, der in der damals geteilten deutschen Hauptstadt spielt, war die Fülle dieser Themen, die auf einmal in ein kurzes Zeitfenster schwappte, erstens neu und zweitens ein gesellschaftlicher Veitstanz. Das geschlechterübergreifende und international greifende Thema war "Befreiung". Befreiung von tradierten Mustern, von Kolonialismus, von Nationalismus hin zu einem libertären "Age of Aquarius". Doch das Schwert, mit dem die Jungen auf die Alten stürmen, schneidet stets mit derselben scharfen Klinge.

Ost-West, links-rechts, oben-unten

Interessanterweise kopierten die westdeutschen Linken in ihrer Weltanschauung das Überlegenheitsprinzip westlicher Lesart, dass auch "ihr" Sozialismus grundsätzlich besser sei, als der real existierende Sozialismus auf der anderen Seite der Mauer, der in punkto Lebensweise und Moralvorstellungen mindestens so moralinsauer daherkam wie die verstaubte Bonner Republik der Adenauer-Ära und ihres Nachfolgers Kiesinger. Als dann nach 1949 die erste große Koalition auf Bonner Boden geschmiedet wurde, formierte sich der außerparlamentarische Widerstand, die APO. Als Trotzreaktion, ähnlich wie heute Teile der Bevölkerung aus genau dem Grunde radikalere, rechtere Protestparteien wählen, nur eben damals aus linker Protestperspektive heraus. Die Muster gleichen sich. Bis auf einen zentralen Punkt: Es gab damals noch zwei diametral operierende, deutsche Staaten, die sich mit ihren jeweiligen Besatzungsmächten, hier die Sowjetunion, dort die Briten, Amerikaner und Franzosen, bis an die Zähne bewaffnet und nuklear hochgerüstet gegenüber standen. Es gab eine Systemzughörigkeit, den Wehrdienst und, auch das, in Westberlin wie in der DDR sogar noch die Todesstrafe. Es gab also eine Bedrohungslage. Diese latente Bedrohung eines atomaren Vernichtungsfeldzugs verursachte eine Pattsituation. Also versuchten beide Seiten, mittels Spionage, Wirtschaftsmacht und politischer Agitation den Gegner in Schach zu halten. Und so gab es laut Broicher und Regel tatsächlich viele subversive Ideen jeweils beider ideologischer Lager, hier die kapitalistische BRD, dort die sozialistische DDR, den jeweils anderen moralisch zu unterwandern, kampfunfähig zu machen und schließlich zur Aufgabe zu zwingen. Da dies mit Waffen eben kaum ging, ohne selber vernichtet zu werden, mußten eben andere Methoden her. Und hier spielt "SED, LSD und ein Hippiemädchen":

Pop will eat itself

Die Spezialisten der Feindaufklärung der DDR sehen in den aufkommenden Studentenrevolten Westberlins ihre historische Chance, die Westjugend zu unterwandern, weiter aufzustacheln und den Klassenfeind kampfunfähig zu machen. Und zwar in freier Abwandlung eines bekannten Zitats von Karl Marx: "Drogen sind Opium fürs Volk." Wären es die 1980er, die hier beschrieben werden, hieße es "Pop will eat itself". Und so soll das funktionieren: Mit selbst produziertem LSD, das in amerikanische Kaugummistreifen geträufelt wird, soll die Westjugend abhängig und wehrunfähig berauscht werden. Nach Lesart der SED-Kader und der Staatssicherheit (StaSi) ist die Westjugend eh schon degeneriert, gammelt rum, kifft, trägt lange Haare und verweigert den Militärdienst. Es braucht nur noch einen "Schubser", so einer der Führungsoffiziere der beiden Protagonisten Rainer und Lutz Kramer, zwei Brüder und Volkspolizisten (VoPos), um die westdeutsche Gesellschaft zu kippen. Den Rest, so ihr Vorgesetzter Michalke, erledigen dann ruck-zuck Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, zusammen mit der Roten Armee. Und ist erst einmal Westberlin endgültig im Korridor und Einflußbereich der DDR, so würde auch bald Bonn kippen. Doch Michalke wäre nicht Geheimagent, wäre er nicht Geheimagent:

Katz und Maus

Wie so viele Spione in der Ära des eisernen Vorhangs spielt auch er ein doppeltes Spiel, trifft sich mit einem BND-Agenten, um ein persönliches Anliegen zu erledigen. Auch der BND hat seine Lauscher auf beiden Seiten der Mauer. Oberst Dombrowsky, der die Gesamtaktion im Interesse des Führungskader der SED leitet, ist nicht nur Vorgesetzter Michalkes, sondern auch sein Vater. Der Westen zeigt sich sehr interessiert an Dombrowsky. Es beginnt ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel, in dem jeder blufft. Denn wer zuerst lügt, sagt die Wahrheit. Von all dem ahnen die Gebrüder Kramer nichts, als sie den Auftrag im Dienste des Sozialismus und des Vaterlands annehmen, jenseits der Mauer, im Westen, hinter den feindlichen Linien zu operieren. Getarnt als westliche Jugendliche sollen sie auf Partys und Happenings die mit LSD präparierten Kaugummis verteilen, um die Straßen von Berlin lahmzulegen und deren Eltern aufzuregen. Was in Ansätzen sogar gelingt.

»Die Westjugend ist verkommen, aber nahezu
kampfunfähig«
, erwiderte Lutz

Doch in ihrem Enthusiasmus, für die Ideale des Arbeiter- und Bauernstaates einzutreten und vielleicht zu ehrenvollen Rängen innerhalb der Volkspolizei, ja, vielleicht sogar der Partei zu gelangen, übersehen sie lange Zeit, dass sie nur benutzt werden. Dass sie auch nur Figuren in einem langen Schachspiel sind. Dabei träumen sie davon, ähnlich wie ihre Altersgenossen im Westen, dass sie ein besseres Leben haben, dass ihre Eltern eine größere Wohnung bekommen, etwas mehr Reisefreiheit. Eben ein Stück vom Kuchen, das allerdings im Westen etwas üppiger und süßer serviert wird als im Osten, wie Lutz und Rainer Kramer bei ihren Schaufensterbummeln im Westen der Stadt feststellen müssen. Irgendwo zwischen angewidert von der "westlichen Dekadenz" und fasziniert von den "technischen Möglichkeiten", die sich in Form von Farbfernseher und Schallplattenspieler zeigen, versuchen sie, erst ihre Linie zu bewahren...dann, ihre Rolle zwischen den Fronten zu finden.

(...)"Rainer hatte keine Lust, benutzte Windeln
auskochen zu müssen, um sie mehrmals verwenden zu
können. Er wollte seinen Kindern ungebrauchte kaufen.
Und genau daran würde der Sozialismus scheitern: an
vollgekackten Windeln.(...)

Das bleibt auch Führungsoffizier Michalke nicht verborgen. Doch auch Michalke muss sich fragen, ob er das Schwanken ob der "richtigen Gesinnung" der beiden eingeschleusten Brüder eher als Nachteil oder als persönlichen Vorteil sehen soll. Den richtigen Drive bekommen all die ideologisch vorgefassten Männer, als ihnen inmitten des Westberliner Sündenbabels lauter junge und vor allem sehr selbstbewusste und lebensfrohe Frauen begegnen. In eine der Studentinnen verliebt sich, wie kann es anders sein, Rainer Kramer, der ältere der beiden VoPo-Brüder. Sehr zum Mißfallen des jüngeren und ideologisch stramm gedrillten Lutz Kramer. Und noch mehr zum Mißfallen der Eltern Barbaras, der schönen Studentin, die, wie Barbara, nichts vom Doppelleben Rainers wissen. Es sind Dialoge wie diese, die das ganze Dilemma junger Leute schildern, die sich in den 1960ern genau so staunend kennen lernten wie in den Generationen zuvor:

(...)Rainer schluckte, denn so genau kannte er sich mit
dem Thema nicht aus. Wann Frauen empfängnisbereit
waren und wann nicht.
»Das heißt, diese Orgien gibt es nur zu bestimmten
Zeiten?«, tastete er sich bedächtig an die Zyklen des weiblichen
Körpers heran.
»Wie beim U-Bahn-Fahrplan. Da weißt du genau,
wann welcher Zug in welche Station einfährt.« (...)

Aber auch Lutz schlingert in seiner Linientreue, als er im – unbeabsichtigten – LSD-Rausch auf eine junge Frau trifft, die ihn seiner Sinne beraubt. Und nach einer exzessiven Party fast seines Lebens.

"Sex mit ihr war, wie das Kaufhaus
des Westens zu betreten. Plötzlich wurde eine ungeheure
Vielfalt geboten statt sozialistischer Mangelwirtschaft."

Als Lutz vollkommen "stoned" einen Westberliner Doppeldecker-Bus, vollbesetzt mit Passagieren high speed über den Ku’damm fährt, schafft er es sowohl in die Westberliner Schlagzeilen als auch ins heiße Herz Oberst Dombrowskys, der stolz auf seine kalten Krieger ist. Weder Dombrowsky noch Lutz noch Rainer wissen, dass auch der BND-Agent und sein Ostberliner Counterpart, Führungsoffizier Michalke, im Bus sitzen...

Quer durch die Mauer

Rasant und temporeich schaukeln die Autoren Alexander Broicher und Carsten Regel ihre Leser quer durch den Summer of Love inmitten einer aufgehetzten und geteilten Stadt: Durch alle Mauern, against all odds, mit allen Sinnen. Der gewohnt lakonische Erzählstil des bewährten Autorenduos setzt sich auch in ihrem neuesten Roman fort und nimmt dem politisch aufgestauten Hintergrund die Schwere, ja, zeigt, um was es vielleicht ursprünglich einmal in der Hippie-Bewegung ging: Um freie Liebe. Nicht um Politik. Ähnlich sah das wohl schon Kult-Model Uschi Obermaier, die einst aus dem studentisch bewegten Schwabing ins etwas bewegtere Westberlin, dann bald nach Kalifornien weiter zog, weil sie nach ihren eigenen Worten "lieber tanzen wollte, als ständig die langweiligen Monologe langbärtiger Kommunarden und Weltverbesserer hören wollte, die sie mehr an genau diejenigen erinnerten, gegen die sie einst auf die Straße gingen." Nicht umsonst fand die erste Lesung des hier vorliegenden und im Verlag fine books just Anfang 2019 erschienenen Romans in der Berliner Szenebar "Muschi Obermaier" statt, die eine Reminiszenz an die wirkliche Repräsentantin des Geists der 1968er in ihrem Dekor trägt. Was uns entzweit, das eint uns, heißt es. Ein epikureischer Ansatz, den die beiden Autoren Alexander Broicher und Carsten Regel sicher eine Stück weit vorleben, denn sonst könnten sie nicht so lebendig vom Leben schreiben. Ein lesenswertes Stück nicht ganz so ernst genommener Zeitgeschichte.


von Daniel Khafif - 23. Februar 2019
SED, LSD und ein Hippie Mädchen
Alexander Broicher
Carsten Regel
SED, LSD und ein Hippie Mädchen

Nach einer wahren Begebenheit
fine books 2019
290 Seiten, broschiert
EAN 978-3981949353