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Ralf Rothmann: Theorie des Regens

Notizen wie wohltuende Regenschauer

"Immer habe ich den Regen geliebt – solange ich nicht nass wurde. Die Welt ist friedlicher, wenn es regnet, still sitze ich am Fenster und höre zu, wie der Wolkenbruch das Laub der Linde, die Postkästen und die leeren Flaschen hinter dem Bistrot zum Klingen bringt. So flüssig schriebe ich gern. Die ganze rue Delambre ist bis zur letzten Laterne auf eine glänzende Weise ausformuliert, und ich blicke durch die Tropfen auf der Fensterscheibe wie durch winzige, schnell zerlaufende Prismen auf mein Leben." Ralf Rothmann ist kein Unbekannter in der deutschen Literaturlandschaft. Der aus dem Ruhrgebiet stammende gelernte Maurerlehrling hat wohl schon so ca. drei Dutzend Literaturpreise verliehen bekommen und lebt seit 1976 in Berlin. Die ehemalige Mauerstadt ist auch Thema in diesen zwischen 1973 und 2020 entstandenen "Notizen", die als roten Faden allein die bloße Schriftstellerexistenz haben und umso verführerischer zum Lesen verleiten. "Lasse uns erleben, was eigentlich möglich wäre auf dieser Welt..."

Déformation professionnelle

Natürlich muss man Rothmanns Notizen nicht in einem Schwung lesen, denn es ist kein Roman oder Essay, den er uns hier vorlegt. Vielmehr bekommen wir Einblick in seinen Alltag, die vielen Reisen in seinem Leben und das, was einen Literaten ausmacht: das Schreiben. Schon auf der ersten Seite macht er klar, dass er als Kind lieber zu den Apachen als zu den Cowboys gehörte, denn das wollten nur die "Idioten". Er bastele sich Wigwamzelte, "flüsterte der Stille zwischen den Weizenfeldern" etwas zu oder verlas sich schon damals öfters mal, eine Marotte, die er Zeit seines Lebens beibehielt. So wurde aus "Augustblau" schon mal "Angstblau", oder aus "Lerchengezwitscher" "Leichengezwitscher". "Alles fühlt sich provisorisch an, und das ist eine Form von Zärtlichkeit", allein dieser Satz versetzt schon so in Staunen, dass man vor Sprachgewalt den Bleistift auf holzfreiem Papier förmlich knirschen hört. Dabei hat das alles gar nichts, aber wirklich überhaupt nichts mit Gewalt zu tun, ganz im Gegenteil.

"Schreiben heißt wahrhaftig sein unter fiktionalen Bedingungen."

Rothmann ist ein feiner Beobachter, er skizziert die menschlichen Begegnungen im Nachkriegsberlin der Siebziger, die No Futures ebenso wie die Nullbocks, Frauen, die sich nehmen, was sie wollen, Männer die sie teilnahmslos gewähren lassen. Ein Eisschrank als "brummende Metapher für die kaltgestellte Natur", Wünsche als "Setzlinge der Erfüllung", aber auch die Auswucherungen des Tourismus, der aus allem eine Kulisse und jedem einen Statisten macht, wird von Rothmann schon früh erkannt. "Schreiben heißt wahrhaftig sein unter fiktionalen Bedingungen.", das gelingt ihm nicht nur einmal in diesen Notizen, die zwar keine Theorie des Regens aufstellen, sich aber dennoch wie kleine wohltuende Regenschauer lesen, die einen das Leben wieder spüren lassen. Ein Frühlingsregen nach einem langen, öden Winter.

Der Zauber der Existenz, Vielfalt ist Pflicht

Mal erzählt Rothmann aus Persien, dann aus Italien, Spanien, Mexiko oder den USA. Skurrile Straßenszenen oder Dialoge, Poesie des Alltags, wie es gerade Weltreisende gerne erfahren, denn nur sie haben die Gnade, im Geschehen innezuhalten und zuzuhören und auch zu verstehen. Alle anderen eilen vorüber und kriegen nichts mit, sind im Tran der Selbstauflösung Opfer ihrer Bedürfnisse. "Nichts gelingt mir; alles ist vollkommen", schreibt er als "dialektischen Querschläger" in Ecuador am Rande eines Abgrunds auf dem Rücken eines furzenden Pferds. In Arequipa beißt erst sich vor Freude in den Handrücken, so schön ist der Blick auf den Sonnenaufgang hinter drei schneebedeckten Vulkanen.

"Niemand hat so viel Bedeutung in meinem Leben, dass er mein Feind sein könnte - außer ich selbst."

Wer nicht wagt, nicht gewinnt, möchte man der Metapher hinterherrufen, aber die sprachlichen und realen Bilder stimmen, Rothmann fühlt sich bei der Veröffentlichung seines ersten Romans, als hätte er sich selbst eine Rippe eingefügt. Doch dann wieder die Selbstzweifel: "Niemand hat so viel Bedeutung in meinem Leben, dass er mein Feind sein könnte - außer ich selbst." In Paris, der Stadt der Liebe, das Liebesgestöhne seiner Nachbarin und die Reaktion seines Vermieters, hat er schließlich seine Eingebung: Literatur entsteht aus der Spannung zwischen dem, was du willst, und dem, was die Sprache will. Fürwahr! Ein großer Literat, selbst in seinen Notizen kann er den Leser gewinnen, macht den Himmel auch ohne Glatze fühlbarer oder lädt ein, ihm auf den Spuren seiner Melancholie zu folgen: "aber nicht als etwas Verstimmendes oder Niederdrückendes, sondern als etwas nach und nach Beflügelndes". 

Die Erfahrung des Absoluten

Dazu braucht man nicht in einer Mansarde im Montparnasse leben, denn die Poesie ist überall. Unter dem Pflaster, in den Straßen oder in allem Schönen, das sich von unserer Liebe ernährt. König und Hofnarr zugleich. "Liebe als die dynamische Essenz des des Göttlichen: Nicht um der Frauen willen habe ich die Frauen angehimmelt, sondern wegen der Erfahrung des Absoluten." Statt dem "Knurren der Rezensenten" hat Rothmann aber dann doch die Frau seines Lebens gefunden, Anja (hebräisch für: "Gnade"), für deren Lächeln er wohl alles tut. Auch hier hat sie das letzte Wort: "Vielfalt ist Pflicht".


von Juergen Weber - 19. Mai 2023
Theorie des Regens
Ralf Rothmann
Theorie des Regens

Suhrkamp 2023
215 Seiten, gebunden
EAN 978-3518225455