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Torsten Schulz: Mein Skandinavisches Viertel

Auf der Lauer - Torsten Schulz' Skandinavisches Viertel

Radau. In der Küche. Im Kopf. Auf den Pflastersteinen im Kiez. In der Kneipe. Wie ein Tonbandgerät, keinesfalls wie ein digitales Aufnahmegerät, nimmt Schriftsteller Torsten Schulz jede Schwingung seines Biotops, dem Skandinavischen Viertel in Berlin auf, das er in zuvor schon in seinem gleichnamigen, 2018 im Klett-Cotta Verlag erschienenen Roman Skandinavisches Viertel vibrieren lässt. Noch etwas lauter und sprachlich genauso unangepasst wie das unebene Kopfsteinpflaster der Straßen, die sein Wohnquartier markieren, schwingen in Schulz' Buch Mein Skandinavisches Viertel mit, das 2019 im Berliner be.bra-Verlag erschien.  Die gleichen, bekannten Zwischentöne wirken durch die Gliederung in Zwanzig Kurzgeschichten und insgesamt 26 Abschnitte noch reduzierter, knarziger, wuchtiger. Gleichermaßen beobachtend wie einfühlsam nimmt Schulz uns auf seinen Streifzügen durch das Skandinavische Viertel mit. Dabei erzählt er mal mit Abstand, mal mit Zoom, ganz "auf der Lauer" distanziert und nah zugleich vom Leben der Bewohner seines Habitats, ganz der erfahrene Filmemacher, der Torsten Schulz nach seinem Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg wurde.

Torsten Schulz beschreibt Historie, Topos und Kontext des Skandinavischen Viertels in Berlin. Das gewählte Buchformat zwingt zur Reduktion; die Texte liefern kontrastreiche Bilder dieses Berliner Stadtteils, ein Wohngebiet im Nordwesten des Prenzlauer Bergs, der zu DDR-Zeiten durch die Mauer vom Berliner Westen getrennt war. Der berühmte Grenzübergang Bornholmer Straße, der in der Nacht des 9. November 1989 weltweit durch die überraschende Öffnung der innerdeutschen Grenze berühmt wurde, befindet sich ebenso in diesem Viertel wie Mauerpark und Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, in dessen Areal 1994 auch die Max-Schmeling-Halle in der wiedervereinigten Stadt fertiggestellt wurde. Im Westen wird das Skandinavische Viertel vom Gleimtunnel, der in den Wedding führt und im Osten von der Schönhauser Allee, Titelgeber für die Kurzgeschichten des Schriftstellers Wladimir Kaminer, begrenzt. Wir sehen also, der Prenzlauer Berg versammelt und inspiriert seit jeher viele Autoren, Musiker und weitere Künstler. Sowohl vor wie nach Mauerfall. Jede Stimme kommt zu Wort. Da unterdrückt Schulz kein Kratzen, kein Knistern, kein Kreischen. Jedwedes Gespräch fräst sich in seinen Erinnerungen tief und unauslöschlich ein. Mitsamt allem Kolorit und einem radauartigen Soziolekt, der früher zu Berlin gehörte wie die Rauchschwaden der Schlote, die den Qualm wohliger Glut aus Berliner Kachel- und Kohleöfen in den graublauen Winterhimmel wabern ließen.

Jene Zeit ist noch gar nicht lange her, doch sie ist beinahe ausgestorben. Dank Torsten Schulz, der diese Zeit erlebte, ihre endemische Besonderheit vor und nach dem Kalten Krieg (der uns heute wieder kalt erwischt) konservierte und vor allem die ihr eigene, lebendige und permajugendlich wirkende Sprache in dieses wohltuende Buch transportiert, können wir heute, ja auch morgen noch in dieses Kaleidoskop des Ostberliner Alltags mitsamt all seinen gebotenen Widrigkeiten und Wundern eintauchen und diesen typischen, kalksauren Geruch von Altbauwohnungen und Alkohol riechen, der zwar nicht den Alltag, wohl aber die persönliche Einstellung dazu ändert.  

Schwarze Hexe, Begegnungen, Koks

In der Betrachtung seines Viertels über viele Jahre hinweg lässt uns Schulz teilhaben, was er neu entdeckt, was sich vom alten Osten zum neuen Westen nach Mauerfall wandelte. Er spaziert durch seine vertraute Heimat und nimmt uns Leser dabei mit: Immer wieder besuchen wir mit dem Autor Bars und Kneipen wie die "Bornholmer Hütte", die neben der historischen Bedeutung ein wenig über Schulz' Sehnsüchte und noch mehr über Namensgebungen von gleichlautenden Vornamen, doch unterschiedlicher Schreibweise im Westen und Osten Deutschlands verrät: Torsten mit oder ohne verstecktem "h"? Wo kommsten her? Der Name sagt’s… Oder wie der Autor auf einer Feier in der Malmöer Straße Koks kennenlernt. Nein, nicht die vom Wiener Sänger Falco viel besungene (und wohl auch viel genommene) Droge. Und auch nicht das Hauptbrennelement zu Zeiten, als in Berlins Mitte eher rot, statt grün gewählt wurde. Sondern ein wärmendes, hochprozentiges Getränk, dessen sehr genuine Rezeptur heute entweder völlig in Vergessenheit gerät - oder wieder Kultcharakter bekommen könnte. Die Heilstätten Ostberliner Gastfreundschaft, die den schweren Trunk auf Rumbasis servieren, führen wohlklingende Namen wie "Hütte", "Schwarze Hexe" oder "Höher’s Gaststube" – und Schulz kennt sie alle, ihr Inventar, ihre Kneipenfamilien, vor, hinter und unter dem Tresen. Natürlich bestellt sich der Autor, als ihn ein Anflug von Wehmut ergreift, ein Glas Koks, als er durch seine geliebten Kneipen schweift.

So wie Schulz zwischen Straßen, Kneipen, Parks und anderen Orten seines Skandinavischen Viertels wechselt, so springt er, seinen Gedanken folgend auch flugs durch die Zeit. Wendezeit, DDR und Nuller Jahre der Berliner Republik fließen ineinander und nicht durcheinander, denn die sinnbildlichen Brücken liefern stets Schulz' Protagonisten: Die Menschen, Andrea, Dirk, Frank, die Schulz immer wieder begegnen, sei es auch nur in der Erinnerung. Die Geschichten ziehen uns hinein wie ein Reigen: So leicht und sensibel, direkt und rau lesen wir Schulz' Anekdoten des Skandinavischen Viertels.  Bis er schließlich eine sehr persönliche Erinnerung teilt: Das Kennenlernen seiner Frau, der Schriftstellerin Angelika Klüssendorf, (Roman "Das Mädchen"). In seiner Schlussepisode Angelika lässt uns Torsten Schulz zum Schluss noch einmal teilhaben an einem Spaziergang im Skandinavischen Viertel, zwischen Cantianstraße und Schönhauser Allee, zwischen Video World, der "letzten Videothek im Umkreis" und dem Schwedter Steg, dem ehemaligen DDR-Grenzgebiet, in dem viele Flüchtende von Grenzbeamten festgenommen wurden. Oder durch ihre Gewehrsalven ihren Tod fanden.  

Es ist diese bemerkenswert hohe Erzählkunst von Autor Torsten Schulz, schwere Themen der Geschichte mit der Unbeschwertheit des Alltags zu verbinden, intime Informationen mit gebotener Distanz zu begrenzen, gleichsam Nähe und Sachlichkeit zu vereinen. Ein Foto beendet den erzählerischen Teil, bevor Angaben zum Autor genannt werden: Es zeigt ein junges Paar beim Morgengrauen, sie sitzen im Freien, vermutlich an der Bornholmer Brücke. Ein Kondensstreifen und eine Laterne wölben sich wie ein schützender Bogen über die beiden, die wir nur von hinten erkennen und ihre Jugend ahnen. Es steckt viel Liebe in diesem Bild, aber auch viel Raues, viel Klarheit, Nähe und Distanz. So wie dieses Bild das Paar und ihren Kontext zeigt, so schreibt Torsten Schulz über die beiden. Das Ende ist kurz. Nicht lang, aber happy. Einen Augenblick lang. 

Diese Sammlung voneinander verschränkten Novellen, von Spaziergängen und Begegnungen ist in seiner Kombination aus Tiefe und Leichtigkeit, aus klarer, aber keinesfalls von Bitterkeit, sondern eher von schelmischer Lakonie geprägter Kritik ein Meisterwerk deutschsprachiger Erzählkunst. Torsten Schulz' Betrachtung seines ehemaligen Wohnquartiers im Berliner Nordosten ist mehr als eine Reminiszenz an einen - immer noch - liebenswerten Stadtteil einer heute recht durchgestylten und gerade im Bezirk Prenzlauer Berg, der das Skandinavische Viertel beherbergt, teuren Großstadt. Die Helden dieser Großstadt fühlen sich auch lange nach Mauerfall nicht wie in einer Hauptstadt. Das fühlten sie sich vielleicht vor 1989, als Ostberlin noch Hauptstadt eines nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums beendeten, im bundesrepublikanischen Jubel eingesaugten "Arbeiter- und Bauernstaates" war. Da war Ostberlin tatsächlich das Tor zur Welt für die ansonsten eher abgeschieden wirkende DDR, vom internationalen Glanz erfolgreicher Olympiateilnahmen abgesehen. Seither liegen sie auf der Lauer. Bereit, sich dem Neuen hinzugeben, wenn es denn Glanz verspricht. Allein, der Glanz weicht altem Putz. Bröckelt schnell ab. Fassade. Wie die Gesichter vieler, die da laufen, rennen, umfallen und gleich wieder aufstehen, um Hermann van Veen zu zitieren, der die Hektik besang, die die Menschen nach 1989 befiel. Nicht aber den Autor, der mit dem Langmut eines großmütterlichen Grammophons sämtliche Rillen seiner Protagonisten, ob verstaubt oder mit Sprung, behutsam nach- und aufzeichnet.

So wie Torsten Schulz diesen Lauf der Zeit beschreibt, so wie er laut denkt, überlegen wir, ob das, was er sieht, was er mit der Zeit in der DDR vergleicht, schon Kritik ist oder nur Verwunderung über moderne Zeiten. Oder einfach nur schelmischer Spott. So oder so, das Lesen dieser Episodensammlung bereitet Freude, regt an, nicht auf, macht nachdenklich – und bald wieder heiter. Der Alltag in seiner Schwere, aber auch in seinen süßen Überraschungen, leicht gezirkelt, die Zeitgeschichte mit Florett umrissen, das erinnert an John Steinbeck, W. Somerset Maugham und vor allem an Frank O’Connor.

Torsten Schulz besitzt die Gabe, die Schwere eines Steins zu zeigen, indem er diesen schweben läßt! Eine Meisterleistung!

Absolut lesenswert.


von Daniel Khafif - 12. April 2022
Mein Skandinavisches Viertel
Torsten Schulz
Mein Skandinavisches Viertel

Berliner Orte
be.bra 2019
244 Seiten, broschiert
EAN 978-3898091602