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Jamaica Kincaid: Nur eine kleine Insel

Kolonialmächte – Jamaica Kincaid berichtet von Antigua

Elaine Potter Richardson wurde 1949 auf der karibischen Insel Antigua geboren. Von den Versehrungen in ihrer Heimat, der sie liebevoll zugetan ist, berichtet die in New York als Jamaica Kincaid bekannt gewordene Schriftstellerin, die unter anderem für den "New Yorker" tätig ist, ohne Pathos und Sentimentalität, anschaulich, leidenschaftlich und berührend. Schonungslos zeigt sie die Wirklichkeit, in der sie aufgewachsen ist.

Ein Tourist mag denken: "Antigua ist eine schöne Insel!" Jamaica Kincaid beschreibt den Fernreisenden, der die farbige Pracht bewundert, für sich entdeckt und so zweidimensional erlebt, wie dies ein Karibikurlaub ermöglicht. Der Reisende sieht, was er sehen möchte: eine schöne Insel. In der Regel ist der Tourist "ein Weißer", der durch den Zoll geht, unbekümmert und jovial, denn sein Gepäck wird nicht durchsucht: "Nach der Zollabfertigung gelangen Sie hinaus in heiße, saubere Luft; sofort fühlen Sie sich gereinigt, augenblicklich spüren Sie, dass ein Segen auf Ihnen ruht (Sie kommen sich als etwas Besonderes vor), Sie fühlen sich frei." Lebenswelten begegnen sich, der Urlauber, vielleicht allein, vielleicht in Begleitung seiner Familie, möchte eine andere Welt genießen, aber nicht mit ihr in Berührung kommen: "Da Sie nun mal im Urlaub sind und da Sie ein Tourist sind, dürfen Sie sich niemals Gedanken machen, wie es denn für jemanden aussieht, der tagein, tagaus in einem Land leben muss, das ständig unter Dürre leidet und deshalb mit jedem Tropfen Wasser sehr sparsam umgehen muss – und dies in unmittelbarer Nähe eines Meeres und eines Ozeans, nämlich der Karibik auf der einen Seite und des Atlantiks auf der anderen." Möchten aber Touristen die Wahrheit über die Orte kennen, die sie bereisen? Sie sind doch nur zu Gast, möchten Cocktails trinken, sich entspannen und vielleicht auch einmal mit ein paar Einheimischen ein paar Worte wechseln. Dann stecken sie ihnen generös ein Trinkgeld zu, nicken verständig, sehen auch freundliche Gesichter – ist das Leben nicht schön?

Wer so reich ist, dass er blind bleibt für die ökonomischen Gegebenheiten auf Antigua, lebt in einer Fantasiewelt. In der Heimat gilt der Tourist als "netter Mensch", als "attraktiver Mensch", doch auf Antigua, unter Armen, die nur fortleben möchten? Jamaica Kincaid schreibt: "Ein Tourist ist ein hässlicher Mensch. Sie sind nicht die ganze Zeit ein hässlicher Mensch; Sie sind gewöhnlich kein hässlicher Mensch. Im täglichen Leben sind Sie ein netter Mensch." Ein Tourist staune "über das harmonische Verhältnis dieser anderen Leute zur Natur" – doch wie würde es ein scheinbar sympathischer Mensch in seinem ganz normalen Alltag bezeichnen? Wahrscheinlich als "Rückständigkeit". Der Tourist, der neugierig, rätselnd und hochmütig Antigua besucht, wird auf der Insel gar nicht wertgeschätzt, nicht gemocht, nicht geliebt, nur ertragen. Es sei leicht zu erklären, warum Einheimische die Touristen nicht mögen würden. Jeder Einheimische würde gerne eine Ruhepause machen oder verreisen: "Aber manche Einheimischen – die meisten auf dieser Welt – können nirgendwo hingehen. Sie sind zu arm. Sie sind zu arm, um irgendwo hinzugehen. Sie sind zu arm, um der Realität ihres Daseins zu entfliehen, und sie sind zu arm, um dort anständig zu leben, wo sie leben. Das ist genau das Fleckchen, zu dem es Sie, den Touristen, hinzieht. Wenn die Einheimischen Sie, den Touristen, sehen, werden sie neidisch. Sie beneiden Sie, weil Sie Möglichkeit haben, ihre eigene Banalität und Langeweile in eine Quelle der Freude zu verwandeln."

Der Tourist bestaunt eine fremde Welt, stellt weitläufige Betrachtungen zu Kultur und Sprache an, beurteilt geflickte, verschlissene Kleidung als Kennzeichen regionaler Vielfalt und bestellt gönnerhaft seine Drinks. Vielleicht philosophiert er sogar, übersieht generös korrupte Herrscher und Politiker, schwadroniert über Drogen und bestellt ein weiteres Kaltgetränk. Jamaica Kincaid schreibt über die britischen Kolonialherren, die "jedes Land, in das sie zogen, in England" verwandeln wollten: "Aber kein Ort konnte je wirklich England sein, und niemand, der nicht genau wie sie aussah, würde je englisch sein. Vielleicht können Sie sich nun die Zerstörung von Land und Leuten vorstellen, die daraus hervorging." Mancher Mensch mag besorgt und verständig, aber zugleich – aus heutiger Sicht – über diese Zeit, die Vergangenheit, ihr Erbe und die globale Diversität weihevolle, feierliche, besorgte und höchst differenzierte Betrachtungen anstellen. Die Armut bleibt.

Jamaica Kincaid spricht auch vom "Briefmarkensyndikat". Auf Antigua gäbe es keine "amtlichen Briefmarkendesigner", ebenso wenig eine "amtliche Briefmarkendruckerei": "Wer entscheidet also, dass Briefmarken gedruckt werden, um den Geburtstag der Königin von England zu feiern? Wer beschließt, dass der Geburtstag von Mickey Mouse gefeiert werden muss? Wer entscheidet, dass Briefmarken aus diesem Teil der Welt bunt und leuchtend sein sollen und nicht ruhig und gedämpft wie etwa eine kanadische Briefmarke?" Es sei, so meinen manche Touristen, doch in die Infrastruktur, in das Gesundheitswesen investiert worden – und verweisen auf die Entwicklungshilfe. Jamaica Kincaid schreibt dazu: "Alle Minister reisen nach Übersee zu ärztlichen Behandlungen. Keiner von ihnen würde hier ins Krankenhaus gehen."

Antigua sei schön, so schön und unwirklich, denn "kein Meerwasser könnte auf einmal so viele Nuancen von Blau hervorbringen", die Insel, die 1493 von Christoph Kolumbus entdeckt worden ist. Die Kolonialherren folgten, bis sie verschwanden. Schon damals war die Insel "so unwirklich schön". Intellektuelle von heute stellen Diskurse über die Vielfalt und Buntheit dieser Welt an. Sie schreiben Geschichte und ihre Geschichten, und sie beschreiben auch Armut, Elend und Not – und zugleich bedauern sie das alles sehr, ganz persönlich, mit vielen Fußnoten und Querverweisen. Wie viele andere lieben auch die meisten von ihnen lateinamerikanische Tänze und karibische Cocktails. So viele verstehen noch immer nicht – und werden nie verstehen, was Jamaica Kincaid anschaulich beschreibt –, dass vieles von dem, was wir kulturelle Vielfalt nennen, auf ökonomischen Bedingungen beruht, ohne dass – wie Karl Marx in der "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" formuliert – jemand bereit ist, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". In diesem sehr lesenswerten Band wirbt Jamaica Kincaid mitnichten für eine Revolution, aber sie fordert energisch, die Karibik mit anderen Augen zu sehen. Möglicherweise entwickeln Leser, die sich auf eine neue Perspektive einlassen, auch unkonventionelle Gedanken? Diesem schmalen Buch ist eine interessierte Leserschaft zu wünschen, besonders in Nordamerika und im alten Europa.


von Thorsten Paprotny - 03. Juli 2021
Nur eine kleine Insel
Jamaica Kincaid
Ilona Lauscher (Übersetzung)
Nur eine kleine Insel

Kampa 2021
Originalsprache: Englisch
112 Seiten, gebunden
EAN 978-3311100683