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Arno Camenisch: Hinter dem Bahnhof

Vom Selbstverständnis der Sprache

Wie ist das bei der Musik? Sind einem nicht die Platten am liebsten, bei denen man nach dem ersten Song noch etwas stutzig ist, diesen und alle weiteren aber doch x-mal abspielt, weil man spürt, dass sich dahinter etwas ganz besonderes versteckt? Nicht, dass man "Hinter dem Bahnhof' gleich mehrmals nacheinander lesen müsste - man kann dies natürlich tun und es lohnt sich durchaus - aber es ist schon so, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis Auge, Ohr und Sinne in die ganz besondere (Sprach-)Welt eintauchen. Und wenn sie es getan haben, dann lässt sie die Faszination an Arno Camenisch jüngstem Buch "Hinter dem Bahnhof' nicht mehr los.

Ein Junge erzählt: Vom Dorf, in dem er lebt, von den einundvierzig oder zweiundvierzig Einwohnern, die ebenfalls im Dorf leben und von den Geschichten, die das Dorf und sein Leben prägen. "Hinter dem Bahnhof' ist zwar auch, aber nicht in erster Linie eine lustig-leichte Kindheitsgeschichte, sondern die Schilderung der Erwachsenenwelt aus der Sicht eines Kindes. In dieser Welt tun sich Abgründe auf: Die kleinen Kinkelis (Kaninchen) werden von Mutter Kinkeli aufgefressen, den Maulwürfen werden die Tatzen abgeschraubt und in den Rhein geworfen, der Vater erschiesst den Hund Fido und der Grossvater erkrankt an Lungenkrebs. Liebkosungen kommen in den Schilderungen, welche beim Lesen stellenweise an die schwarz-weiss Illustrationen von Hannes Binder erinnern, nur selten vor und doch sind sie präsent, dauerpräsent in der Sprache.

Damit ist zum einen das Ineinandergreifen von Hochsprache, Bündner Dialekt, Rätoromanisch und verdeutschten rätoromanischen Wörtern gemeint, was dem Buch neben Authentizität seinen besonderen Ton verleiht und zum anderen, gewichtigeren, der Umgang mit Sprache als solche. Jedes einzelne Wort steht auf Inhalt und Klangfolge bezogen exakt am richtigen Ort - nichts ist dem Zufall überlassen. Eine Kostprobe:
"Mein Haus hat eine Doppeltüre. Es hat ein Fenster neben der Türe und zwei Fenster im ersten Stoc. Auf dem Dach hat es Ziaghels. Auf dem Dach ist ein Kamin. Aus dem Kamin kommt Rauch. Ich zeichne Vorhancs an den Fenstern. Neben dem Haus ist ein Garten. Im Garten zeichne ich Blumen. Ich zeichne auch eine Sonne und Wolken am Himmel. Am Himmel hat es zwei Vögel. Im Garten zeichne ich einen grossen Baum. Unter dem Baum ist ein Cäfic. Im Cäfic zeichne ich ein Kinkeli."
Zahlreiche Verdoppelungen und Wiederholungen führen durch die Zeichnung des jungen Ich-Erzählers. Die Stockwerke des Hauses können als Notenlinien gedacht werden, worauf sich die einzelnen Noten - stellvertretend für die Objekte der Zeichnung - befinden, zwischen denen hin und her gehüpft wird. Es entsteht eine Melodie: Die Sprache wird zur Musik.
Kurze Abschnitte mit einzelnen Szenen führen durch den Dorfalltag der beiden Brüder, "Buobs', "Huaralümmels', "Saugofas' oder "huara Cleppers', wie sie meist genannt werden. Auf den ersten Seiten werden die Persönlichkeiten von Dorf und Familie vorgestellt. Hier "Tattas' erster Auftritt: "Die Grossmutter steht blutt vor mir. Sie erschrickt, als sie mich sieht. Sie macht grosse Augen. Sie hat den Mund offen. Sie hat ihre falschen Zähne nicht drin. Ich erschrecke auch. Ich schaue aber nicht weg. Ich kann nicht wegschauen. Mein Hals ist aus Holz. Ich habe noch nie meine Tatta blutt gesehen. Sie sieht so anders aus ganz blutt. Sie sagt, oha." Da ist die "Strof' natürlich gewiss.
Rück- und Vorgriffe verbinden die einzelnen Episoden miteinander. Während der Vater im "Restorant' sitzt, betrachten die beiden Kinder die Autos der Soldaten. "Mein Bruder sagt die Automarcas auf. Ich sage die Farben auf." Ein Abschnitt später, als von den Nachbarn die Rede ist, wird darauf Bezug genommen: "Das Haus der Rorers ist grad neben den Zugschinas. Sie kommen aber nie mit dem Zug. Sie kommen immer mit dem Auto. Ihr Auto ist braun. Das ist ein Opel, sagt mein Bruder." Auch für den nahenden Tod des Grossvaters gibt es Vorzeichen. Wie jedes Jahr zu Weihnachten bekommen die "Buobs' von der Tatta ein Päckli mit einer Schokolade und einem draufgeklebten Fünfliber geschenkt. "Nur dass da dieses Jahr eine andere Schokolade drin ist als all die anderen Jahre, was das wohl bedeuten mag, sagt die Tante zur Mutter." Die "schwarzen Kartoffeln' in der Brust des Tat nehmen zu - der heisse Punsch mit einem "Spruz Schnaps' kann nicht länger "Miraclas' bewirken. Kurz darauf steht die ganze Familie im Spital ums Krankenbett des sterbenden Grossvaters. "Niemand sagt etwas. Alle schauen auf den Tat und zum Fenster raus, wenn sie ihre Nasen putzen." Und dann, dann folgt die allerschönste Beschreibung des ganzen Buches:
"Vor dem Fenster ist ein Baum. Der Baum hat keine Blätter. Es ist ein grosser Baum, wie der Kirschbaum in unserem Garten. An den Ästen des Baumes hängen Streifen aus Alufolia. Sie sind angemacht mit einer Schnur. Acht Streifen hängen am Baum. Sie bewegen sich im Wind und klappern leise. Sie blenden, wenn man sie anschaut und die Sonne draufscheint. Dann sieht man die Streifen gar nicht mehr, man sieht nur noch hell. Schaut man lange einen Streifen an und schaut dann weg, sieht man dunkle Flecken in der Luft."

Das Selbstverständnis, mit dem der 32jährige Arno Camenisch Sprachen, Dialekt und Wortkreationen miteinander vermischt, ist beeindruckend. Ist von einer "Kunstsprache' die Rede, so ist das nicht korrekt, denn - im Gegensatz zum "reinen' Hochdeutsch - ist sie das ja gerade nicht. Arno Camenisch, der vor kurzem das Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel abgeschlossen hat, legt mit "Hinter dem Bahnhof' ein kleines (und sehr feines) Buch vor, in dem auf wundersame Weise eine ganze Welt Platz findet.

Rezension über Arno Cemanisch "Ustrinkata"

von Regula Portillo - 07. November 2010
Hinter dem Bahnhof
Arno Camenisch
Hinter dem Bahnhof

Engeler 2010
95 Seiten, gebunden
EAN 978-3938767788