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Eva Meijer: Was Tiere wirklich wollen

Außergewöhnliche Beziehungswesen

Deutsche Philosophen wie Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Ernst Cassirer dachten im 20. Jahrhundert über das Wesen des Menschen nach und entwickelten gedankenreiche, aber zugleich eindimensionale philosophische Anthropologien. Im Zentrum ihrer Überlegungen über den Menschen und seine Welt stand einzig der Mensch, sprachbegabt, kulturell schöpferisch, bisweilen überheblich und rabiat, gewalttätig und mörderisch. Die vielseitig begabte niederländische Autorin Eva Meijer, 1980 in Hoorn geboren, hat bereits in "Die Sprachen der Tiere" über die Kommunikationsformen von nichtmenschlichen Lebewesen nachgedacht, über Sprachen, die das "animal rationale", also das vernünftige Tier Mensch, wahrnehmen und auch verstehen kann oder könnte. In ihrem neuen Buch entwickelt und erweitert die Philosophin ihre bemerkenswerten Überlegungen.

Der deutsche Titel mutet plakativ und etwas spröde an. Im Niederländischen heißt das Buch "De soldaat was een dolfin. Over politieke dieren", also: "Der Soldat war ein Delphin. Über politische Tiere" – das klingt wohltuend literarisch und weniger programmatisch. Der Essay ist auch keine "Streitschrift" für das philosophische Provinz- oder Welttheater. Vielmehr lädt die Autorin ein, zum Nach- und Mitdenken. Zudem wissen wir nicht – und Eva Meijer würde zustimmen –, was Tiere wirklich wollen, zumal es "die Tiere" nicht gibt. Wir können auch nicht von innen her wissen, was in einem gefühlvoll, instinktiv, intuitiv, auch absichtlich, also bewusst handelnden Lebewesen vor sich geht, wie es sich selbst, die Welt und uns wahrnimmt. Aus eigener Erfahrung darf ich sagen: Ich weiß, dass ein von Kindheit an mir bekannter, vertrauter Elefant mich erkannte, begrüßte und wahrnahm – und meine Stimme hörte. So wie auch ich, aufgrund meiner sehr weit reichenden Hörfähigkeit, die bis in die höheren Frequenzen des Infraschall hineinreicht, einige tiefe Töne dieses sehr großen grauen Lebewesens vernehmen konnte. Doch so wenig wie ein anderes Lebewesen mir gegenüber Einsicht nehmen kann in die Struktur meines Denkens oder in das Gespinst der Begriffe, mit deren Hilfe ich mich als vernünftiges Lebewesen in der Welt orientiere, so wenig gelingt es umgekehrt. Doch wir können einander sehen, beobachten und verstehen lernen. Die traditionelle Philosophie hilft nicht weiter – und die anthropozentrische Sichtweise steht wie ein Hemmnis, wie ein Hindernis zwischen mir und allen anderen Lebewesen. Doch ist mir gewiss in diesem Augenblick: Wir stehen in einer Beziehung, also können wir einander auch auf sehr eigene Weise begegnen. Auch der Delphin, von dem Eva Meijer erzählt, desertierte. Er lehnte die Zusammenarbeit mit Menschen ab. Nicht weniger störrisch erwiesen sich für militärische Zwecke in Dienst genommene Kamele. Törichte oder kluge Lebewesen? Sie wurden dann nicht mehr eingesetzt.

Die Philosophin Eva Meijer stellt Beziehungswesen vor: "Nichtmenschliche Lebewesen können viel mehr, als wir bisher dachten, und eine harte Scheidelinie zwischen Mensch und Tier lässt sich nicht ziehen. … Sie verschaffen sich Gehör und bestimmen die Ausgestaltung der Beziehung, ja manchmal sogar der Gemeinschaft mit." Das Wissen darum führt zu einer ganzen Reihe von Fragen, mit ethischen Dimensionen und politischen Konsequenzen. Die Autorin schlägt in diesem Sinn eine neue, zweite, vielleicht eine erweiterte Form von Aufklärung vor, mit Blick auf die Lebewesen, mit denen wir den Lebensraum Erde teilen: "Dass sie anders sind als Menschen und sich anders ausdrücken, heißt nicht, dass sie weniger klug wären oder weniger wertvoll." Eva Meijer spricht nicht nur von Tierrechten, sondern auch von Formen der Partizipation und denkt darüber nach, wie die Interessen von nichtmenschlichen Lebewesen wahrgenommen und berücksichtigt werden könnten. Grundlegend hierbei ist, dass "gute Beziehungen" – wie viele Beispiele zeigen – sehr wohl möglich sind. Gegenwärtig seien Tiere in der menschlichen Gesellschaft eher "Leidtragende". Sie machten aber als Einzelne durchaus auf sich aufmerksam, bemühten sich, gesehen und gehört zu werden. Also wirbt die Philosophin für "neue Formen des Zusammenlebens", die "im Dialog miteinander" entstehen könnten. So erinnert Eva Meijer an den englischen Philosophen Jeremy Bentham, der die "Leidensfähigkeit" von Tieren erkannt habe. Also sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Lebewesen, die anders seien als wir, "Schmerz und Freude" empfinden könnten. In der Wirklichkeit werden Tiere oft diskriminiert, zuweilen mithilfe von religiösen oder philosophischen Argumenten – sie seien unvernünftig, gefühl- und kulturlos: "Eine solche moralische Schwelle zu errichten ist problematisch, denn worin einer gut ist und worin nicht, beruht auf Zufall, und es wird immer Tiere geben, die etwas können, was Menschen (und zwar nicht nur Säuglinge oder Menschen mit schweren Behinderungen) nicht können. Bleibt also nur, dass man Menschen als wichtiger erachtet, weil sie Menschen sind, und das ist eine Form von Diskriminierung: die eigene Art an erster Stelle." Menschen, die enge Beziehungen zu geistig Schwerbehinderten pflegen, "interpretieren die von ihnen zum Ausdruck gebrachten Standpunkte und Wünsche, übermitteln diese an andere Menschen und sorgen so für die politische Repräsentation." Wäre analog ein solches Modell auch zumindest für domestizierte Tiere tauglich? Eva Meijer hegt begründete Zweifel: "Menschen (wie Tiere) neigen oft stark dazu, von ihren eigenen Wünschen ausgehend zu denken und ihre Interpretation der Gegebenheiten auf andere zu projizieren." Stattdessen wirbt sie für mehr Sensibilität, für ein besseres Zuhören und für die Suche nach Möglichkeiten zur Teilhabe – jenseits aller Stereotype: "Tiere können mittels Bewegungen, Duftstoffen, Körperhaltungen, Lauten, Blicken, sich verändernden Farbmustern auf ihrer Haut und auf viele andere Weisen miteinander und mit uns kommunizieren. Sie haben ihre eigenen Sprachen, denen wir Beachtung schenken und die wir ernst nehmen müssen."

Die Unterscheidungen, die zwischen Lebewesen getroffen werden, sind geschichtlich bedingt, ebenso nachweis- wie veränderbar. Auf gewisse Weise zeigt sich auch, dass in der Philosophiegeschichte Irrtümer zuweilen fortgeschrieben und befestigt werden – der rationalistische Denker René Descartes verglich Tiere mit "Uhrwerken" –, aber ebenso sind wir dazu in der Lage, Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Es ist auch nicht verboten, unkonventionelle Gedanken zu hegen und tatsächlich neue Perspektiven und Betrachtungsweisen einzunehmen. So weiß auch ich als Leser dieses Buches – als männlicher, weißer Mensch –, dass Eva Meijer vollkommen richtig den historisch-kulturellen Kontext der Aufklärungsphilosophie erfasst, wenn sie schreibt: "Der Mensch der Aufklärung ist männlich, weiß und mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet. Nicht zufällig hatte ebendieser Mensch seinerzeit das Sagen." Diese Dominanz und die damit verbundene Denkungsart haben wir – zumindest weitgehend – heute überwunden. Oder doch nicht?

Noch immer wird Tieren die Sprachfähigkeit nicht zuerkannt, verantwortlich dafür seien "Machtverhältnisse". Wer den "begrifflichen Rahmen von Sprache" bestimme, schließe Ausdrucksformen anderer Art davon aus. Eva Meijer wirbt dafür, dass die Sprechenden, also alle Lebewesen, einander besser kennenlernen und einander zuhören. Mit anderen Beziehungswesen sich auszutauschen – warum sollte das nicht möglich sein? "Wenn wir bessere Beziehungen zu anderen Lebewesen anstreben, schließt das auch ein, dass wir Schritt für Schritt unsere Macht über sie aufgeben und uns für das öffnen müssen, was sie in uns sehen. Vielleicht stiftet das Chaos, doch im Neuen liegt auch Hoffnung – die Hoffnung auf ein größeres Wohl für alle." Deutlich politisch formuliert Eva Meijer: "Tiere haben ihre eigenen Lebensanschauungen und ihre eigenen Ausdrucksweisen. Statt für Tiere zu sprechen, sollten wir daher mit ihnen sprechen. Das gilt für den Aktivismus genauso wie für die Tierforschung und das Denken über Tiere."

Ein Philosoph der Antike namens Protagoras behauptete: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Nicht wenige Menschen glauben daran noch heute und verhalten sich entsprechend. Eva Meijers Buch fordert heraus – und fordert eine neue Sensibilität für Lebewesen, die so wenig wie wir selbst das Maß aller Dinge sind. Anders als viele unserer Artgenossen behaupten Tiere – so dürfen wir vielleicht annehmen – aber auch nicht, das zu sein. Wer anregende, ja außergewöhnliche wie unkonventionelle philosophische Denkanstöße sich wünscht, dem sei dieser Band zur Lektüre empfohlen.


von Thorsten Paprotny - 30. Oktober 2019
Was Tiere wirklich wollen
Eva Meijer
Hanni Ehlers (Übersetzung)
Was Tiere wirklich wollen

Eine Streitschrift über politische Tiere und tierische Politik
btb 2019
Originalsprache: Niederländisch
160 Seiten, gebunden
EAN 978-3442758128