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Bernhard Weßling: Der Ruf der Kraniche

Die Schönheit der Kraniche 

Bekannte Naturkundler – von Alfred Brehm über Albert Schweitzer, Diane Fossey und Jane Goodall bis zu Josef Reichholf – haben zu unterschiedlichen Zeiten Lebensräume erkundet, Tiere auf allen Kontinenten in den Blick genommen und, mit den Worten des Philosophen Helmuth Plessner gesagt, "mit anderen Augen" die Welt, in der nicht nur wir Menschen leben, betrachtet. Viele Leser, die nun Bernhard Weßlings mit Sympathie und Leidenschaft verfasstes Buch über Kraniche in die Hand nehmen werden, denken gewiss versonnen zurück, als sie selbst in Kindheit und Jugend die Natur für sich entdeckt haben. Vogelschwärme am Himmel faszinieren, regen an zum Träumen. Wie gerne wären viele von uns weit hinaus über die engen Mauern und Hinterhöfe der Großstädte mit ihnen in ferne Länder geflogen. An Begegnungen mit Ornithologen an der Nord- und Ostsee gehen meine eigenen Erinnerungen zurück. Wer auf das Wattenmeer und die große Weite der See hinausschaut, entdeckt zahlreiche gefiederte Freunde. An die Vögel – und so viele umweltbewegte Menschen verschließen die Augen davor –, die in den monströsen Windenergieanlagen tagtäglich verenden, muss ich auch denken. Zu den Paradoxien dieser Zeit gehört, dass das scheinbare Engagement für den Klimaschutz mit einer mitleidlosen Billigung der Vernichtung von Lebewesen einhergeht, von fühlenden, schönen und auch intelligenten Vögeln. Wie wir heute Tiere für uns entdecken, beobachten, bestaunen und bewundern können, zeigt Bernhard Weßling in seinem Buch am Beispiel der Kraniche. 

Aus dem "engen und verschmutzten Ruhrgebiet" gelangte Weßling in den Norden Deutschlands. Die "Rußwolken" hinterließen "schwarze Flecken auf der Wäsche". Bei Hamburg sah er erstmals Kraniche und begann seine "Expedition in die verborgene, rätselhafte Welt" dieser Vögel. Weßling führte keine "Verhaltens-Experimente" durch, sondern entschloss sich zur bloßen Beobachtung. Wer sich ernsthaft mit Menschen und Tieren, mit der Natur überhaupt beschäftigt, den empören und verstören jegliche Dressurakte. Die Erfahrung mit solchen martialischen Regimentern macht auch das rätselhafte Wesen Mensch in der Zwangsanstalt Schule, jedenfalls zu früheren Zeiten. Weßling begegnet – und insoweit vorbildlich für die Naturkunde überhaupt – den Kranichen behutsam und mit Abstand: "Wie gehen Kraniche mit ihnen unbekannten Situationen um? Wie verhalten sie sich, wenn andere Tiere, vor allem aber Menschen ihr Brutgeschäft oder die Nahrungsaufnahme stören?" Vor allem: wie denken Kraniche? Ein wichtiger Aspekt, der sogleich nicht nur von etlichen Politikern, Philosophen oder Theologen skeptisch betrachtet oder offensiv missbilligt würde. Kraniche, so stellt Weßling fest, verhalten sich nicht "stereotyp", also "nicht so, wie man es sich gemäß eines ererbten Verhaltensschemas vorstellt, sondern wie Persönlichkeiten mit eigenen Plänen und individuellen Charakterzügen". Damit sind die Kraniche anderen Lebewesen – wie etwa Elefanten – nicht unähnlich, freilich auch dem Wesen Mensch, das sich noch immer für so erhaben, schlau und überlegen hält. Über Formen des Bewusstseins stellt Bernhard Weßling Überlegungen an: "Dabei fragte ich mich gelegentlich, ob Tiere wirklich so ganz anders denken als wir, und es würde mir völlig normal vorkommen, wenn man eines Tages feststellte, dass Tiere auf prinzipiell ähnliche Weise wie Menschen denken, lediglich – je nach Art – graduell verschieden von uns und voneinander." Vielleicht, so könnte man begründet mutmaßen, stellten Tiere keine fragwürdigen Theorien auf, die sie dann mit der objektiven Wirklichkeit identifizierten. In gleicher Weise würden Tiere kaum den Umweltschutz propagieren und zugleich die Lebensgrundlagen anderer zerstören. 

Die Kraniche etwa sind deutlich älter als Menschen. Seit etwa 60 Millionen Jahren leben sie auf der Erde, "früher sogar als die frühesten Säugetiere". Kraniche gehören zu den "Rallen" und sind damit mit den als Blässhühnern bekannten "Blässrallen" verwandt sowie mit den Trappen, die in Deutschland, so Weßling, fast ausgerottet wurden. Am Boden geben Kraniche "trompetenartige Rufe" von sich, die "zumeist paarweise im Duett" vernehmbar sind: "Kraniche hören gut, riechen vermutlich nicht besonders gut, können aber exzellent sehen. Sie erkennen jede verdächtige Bewegung, selbst von Weitem." Die Flugbewegungen von zwei Kranichen, die Weßling als "Gefühlsausbruch" deutet, beschreibt er anschaulich: "Es war wie ein Ballett, aber eines mit einer gewaltigen (allerdings nur in meinem Kopf hörbaren) Musik, nichts Beschauliches, sondern eine Abfolge von Explosionen an Dynamik und Kraft, gepaart mit einer unbeschreiblichen Anmut. Kranichgesang und -tanz, eine einzigartige Choreographie für zwei Tänzer, Flieger und Trompeter. Und für nur einen Zuschauer mit freiem Eintritt. … Hier sprudelte ein Kranichpaar vor Lebensfreude." Dieses Kranichpaar bleibt unbekümmert gegenüber menschlichen Gedankenspielen, etwa über die törichte Vorstellung, es handele sich bei den Vögeln um "gefühllose »Brutmaschinen«", die "von ihren Genen dazu getrieben werden, Jahr um Jahr zwei Eier zu legen, auszubrüten und die seelenlosen Wuschel, die da herauskrabbeln, möglichst flügge zu bekommen".

Weßling spricht davon, wie sehr er bestrebt war, die "ersten echten Flugrunden" von jungen Kranichen zu erleben. Er beobachtete, wie die Vogeleltern körpersprachlich und – wie auch Menschen – "mithilfe von Blickkontakt" kommunizierten, so dass das Junge durch Nachahmung lernen konnte: "Die Alten tanzten lange und intensiv; sie führten einen regelrechten Freudentanz auf. Und schließlich fühlte sich das Junge zum Nachmachen animiert. Herrlich unbeholfen sprang es hoch, schlug mit den Flügeln, wollte es genauso machen wie die Eltern, kriegte es aber nicht hin." Doch der junge Vogel begann zu fliegen. Weßling bleibt dankbar für das, was er in respektvoller Distanz mit ansehen durfte: "Ein Jungkranich war zum ersten Mal geflogen, die Familie hatte Übungsrunden gedreht, das Junge in der Mitte, die Eltern schauten sich oft nach ihm um. Die Flüge gelangen ohne Absturz, die Landung war nahezu perfekt." Weiter schreibt er: "Kraniche sind sich ihrer selbst viel mehr bewusst, als wir ihnen zugestehen wollen. Sie »wissen«, dass das Junge flügge werden muss."

Bernhard Weßling, promovierter Chemiker und Unternehmer, hat anschaulich und lebendig die Welt der Kraniche porträtiert. So lässt er die Leser teilhaben an seiner Leidenschaft für die Naturbeobachtung und wirbt für ein neues Verständnis von Mensch und Natur. Am schönsten für die Kraniche ist, wenn sie einfach nur Kraniche sein dürfen. Freuen nicht auch wir uns, wenn wir bloß so sein und leben dürfen, wie wir von Natur aus sind? Wer sich der Natur demütig und dankbar nähert, wird über diese prächtige Welt fasziniert, ja kindlich staunen und, wie Albert Schweitzer sagte, eine neue Ehrfurcht vor dem Leben empfinden.


von Thorsten Paprotny - 29. November 2021
Der Ruf der Kraniche
Bernhard Weßling
Der Ruf der Kraniche

Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt
Goldmann 2020
416 Seiten, gebunden
EAN 978-3442315437