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Igel

Stachelige Sympathieträger

Auf Morgenspaziergängen, in der Stadt wie auf dem Land, begegnen uns mitunter Lebewesen, deren Vorfahren deutlich länger diese wunderbare, unbegreifliche Welt bevölkern als der stolze Homo sapiens, der sich zum Herrn über die Natur berufen fühlte und auch heute noch außerstande zu sein scheint, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit der Umwelt, in die er eingebettet ist, in Frieden zu leben. Auch Igel etwa, die in diesem Band von Verena Auffermann liebevoll und kenntnisreich vorgestellt werden, bleiben bedrohte Weggefährten.  

Igel gelten als possierliche, freundliche Einzelgänger. Sie verfügen über zahlreiche Talente. Dass Giftschlangen nahezu machtlos gegen die nachtaktiven Tiere sind und von Igeln gefressen werden, wird anschaulich dargelegt. Dafür fallen zahllose Igel dem Geschwindigkeitsrausch von Menschen zum Opfer. Autos beenden jäh ihr Leben. Die Autorin berichtet von ihrer ersten Begegnung mit einem Igel: "Zuerst hörte ich das Rascheln, dann tauchte zwischen den Gräsern und Pflanzen seine schwarz-glänzende Nase auf, und ich sah die Knopfaugen, mit denen er allerdings, wie ich heute weiß, mich nicht allzu gut hat erkennen können, da Igel keine guten Augen haben, jedoch exzellent riechen und mit ihren blattartig in die Höhe stehenden Ohren noch besser hören können. Ich fand ihn süß, traute mich nicht, ihn anzufassen." Der Igel fand nicht nur ein Eingang in bekannte Sprachbilder – das "Einigeln" sei eine "uralte menschliche Sehnsucht" –, sondern auch in die Märchen-, Kultur- und Comicgeschichte. Der vermenschlicht dargestellte Igel "Mecki", den die Radio- und Fernsehzeitschrift "Hörzu" in Deutschland präsentierte, verkörperte Zuversicht und Fortschrittsoptimismus und erfreute die Leserschaft in der Nachkriegszeit.  

Auffermann denkt über das "Einigeln" weiter nach. Der vollständige Rückzug des Igels in sich selbst sei ein "biologisches Wunder", aufgrund einer einzigartigen Technik möglich, "bei der ein kräftiger Ringmuskel die Rückenhaut anspannt und zu einem Ball formt": "Das Einigeln ist die perfekte Metamorphose von einem Tier mit vier Beinen in eine stachelige Kugel. Es war genau dieses Einigeln, das mich in meiner Kindheit besonders faszinierte. Die Technik des Igels, in seiner eigenen Stachelhülle zu verschwinden, ist in seiner Perfektion einzigartig. Einigeln, verschwinden, unangreifbar für die anderen werden, das wollte ich unbedingt lernen, das war mein Traum …" Was die Autorin hier darlegt, spricht vielen Lesern, nicht nur den Igelfreunden unter ihnen, aus dem Herzen. Darin zeigt sich eine individuelle Gegenbewegung zu empörten Schlauköpfen, die ihre Meinung ungefragt öffentlich exponieren und grell darbieten, zu Selbstdarstellern, die sich auf anstrengende Weise öffentlich zu inszenieren wissen, und zu dem Schwarm der Marketingspezialisten, die für irgendetwas und vor allem für sich Werbung machen möchten. Auch viele von uns möchten sich manchmal nur zu gern einigeln. 

Die Igel sind auf ihre leise Weise präsent und lieben es, im Mantel der Nacht zu verschwinden. Verena Auffermann beschreibt Sehnsüchte über menschliche Existenzweisen, wenn sie über Igel nachsinnt. Verborgen vor der Welt zu leben, das Glück in der Stille zu finden oder sich allem, was wichtig wie bedeutend auftritt, entziehen zu können, davon träumen mehr Zeitgenossen als wir vielleicht denken. Vielleicht haben auch Sie sich schon bei einem Igel-Gedanken ertappt: Ich möchte nichts mehr tun und keine Ziele haben müssen, sondern einfach nur da sein und zurückgezogen leben?

Der Igel, so Verena Auffermann, sei der "Eremit unter den Säugetieren": "Er genügt sich selbst, lebt diszipliniert und hält sich an seine eigenen Regeln. … Dasein bedeutet für den Igel Alleinsein. … Ein Igel lässt sich nicht vereinnahmen. Für mich ist er unter allen Tieren das rätselhafteste. Der Igel ist zu langsam, um zu fliehen, aber einzigartig in der Kunst des Entziehens." Trotz aller Stacheln ist der Igel ein sehr sensibles Lebewesen. Auch wenn die Sehfähigkeit eher begrenzt ist, so reagieren "Igelohren" empfindlich auf die Tonlagen mancher menschlichen Stimmen: "Schrille Töne beunruhigen ihn, auf tiefe, ruhige Stimmen reagiert der Igel gelassen." Ähnlich wie Hunde erfassen Igel auch Gerüche schon aus großer Entfernung. Der Geruchssinn hilft bei der Nahrungs- wie bei der Partnersuche: "Feinde riecht der Igel auf einen Abstand von neun Metern, den möglichen Liebespartner erst, wenn er oder sie sich im geringen Abstand, also beinahe in Sichtweite befinden." Die Nase sei "sein Ein und Alles": "Der Geruchssinn des Igels übertrifft den der meisten Säugetiere. Er schnüffelt bei jedem seiner Schritte. Dabei glänzt die Nase und zuckt aufgeregt hin und her. Alles wird sorgfältig berochen und einiges sogar umgedreht. Stöcke, Steine, Zweige, Grasbüschel. Wittert er eine Beute, hat das planlose Herumschnüffeln ein Ende, und der Igel stürzt sich auf seinen Fang. Selbst Regenwürmer, die sich unterirdisch durchs Erdreich graben, sind vor ihm nicht sicher."

Igel leben trotzdem in einer beständigen Gefahr, denn Straßen, so die Autorin, waren von der Evolution nicht vorgesehen. Nur wenige Igel erreichen ein Alter von sieben Jahren. Es bedürfe eines hohen "Ausmaßes von Glück", überhaupt erwachsen zu werden und die ersten zwölf Monate zu überleben: "Die moderne, durchrationalisierte Natur macht es dem Igel immer schwerer, in ihr zu leben. Durch die Einebnung von Hecken und Gräben, das Entfernen von Büschen und wildem Gelände, verliert er sein geschütztes Habitat."

Dieses hübsch illustrierte, ausgesprochen lesenswerte Buch ist in der Reihe "Naturkunden" erschienen. Verena Auffermann bekennt sich, zugewandt und mit aufrichtiger Zuneigung, zu den Igeln und stellt diese Spezies eindrücklich vor. Die Lektüre ermutigt dazu, mit offenen Augen die Natur um uns zu betrachten und neu die Freude am Reichtum und an der Vielfalt der Tiere unter uns zu entdecken, sowie aufmerksam für den Naturschutz zu sein. Auch dem Igel gebührt unsere volle Sympathie.


von Thorsten Paprotny - 09. Januar 2022
Igel
Verena Auffermann
Judith Schalansky (Hrsg.)
Falk Nordmann (Illustration)
Igel

Ein Portrait
Matthes & Seitz 2021
128 Seiten, gebunden
EAN 978-3751802093