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Menschlichkeit in Zeiten der Angst

Damit das Gute gewinnt – Warum Julia Leeb von Kriegen und Revolutionen berichtet

Von kriegerischen Konflikten bleibt die Welt gezeichnet. Über regionale Aufbrüche, Revolutionen und Machtwechsel – etwa vom sogenannten "Arabische Frühling" im Jahr 2011 – lassen sich besondere Geschichten erzählen. Viele dieser Bewegungen, die auch von Politikern ebenso wie von scheinbaren Experten aus dem Westen, mit gutwilliger und so oft verständnisloser Anteilnahme begleitet werden, entwickeln sich doch ganz anders als erwartet. Präzise beschreibt die Fotojournalistin und Filmemacherin Julia Leeb etwa die Geschehnisse in Libyen 2011: "Tripolis ist in den Händen der Rebellen. Die Diktatur wird durch Anarchie ersetzt. Über die Stadt hat sich eine Woge unaufhaltsamer Aufbruchsstimmung ergossen." Die Berichterstatterin schildert, was sie sieht und erlebt hat. Vielen Lesern wird der Atem stocken über Geschehnisse in einer Welt, in der wir – im Herzen des alten Europas beheimatet – so unbeschwert leben, auch in Zeiten der Corona-Pandemie.

Zurück nach Libyen, das 1986 von den USA bombardiert wurde, nach dem Anschlag von Lockerbie. Die US-Raketen sind im Eingangsbereich des Regierungspalastes ausgestellt: "Nach offiziellen Angaben ist Gaddafis kleine Adoptivtochter Hana bei diesem Bombardement umgekommen. Umso verwunderlicher finde ich es, dass ihr Vater die geborgenen Raketen als supermoderne Kunstinstallation in sein Foyer hängte." 2011 herrscht in Libyen Bürgerkrieg. Leeb berichtet von Raketeneinschlägen in der Nähe. Sie kann nicht mehr aufhören zu zittern, aber sie bleibt. Die Journalistin und ihre Begleiter geraten unter Beschuss. Sie sieht "ausgebrannte Autos": "Auf einer weit entfernten Anhöhe wartete jemand darauf, abdrücken zu können und uns mit einer Boden-Boden-Rakete auszulöschen. Unter einem der Fahrzeuge sah ich eine Flamme lodern. Auf den Sitzen nur ein Häufchen Asche. Schlagartig verstand ich, dass einige dieser Wracks die Autos der vorbeigefahrenen Familien sein mussten." Julia Leeb schreibt, sie habe – noch immer – den "naiven Anspruch", durch Bilder aus Kriegsgebieten die Welt verändern zu können. 

Die Journalistin erinnert sich an eine paradiesische "Kindheit ohne Computer". Die Eltern erlebten das "Wirtschaftswachstum im Nachkriegsdeutschland" mit. Zwiespältig denkt Leeb an die Schule zurück: "Meine etwas jüngeren Lehrer versuchten, uns Schülern eine seltsame Art von schlechtem Gewissen einzuflößen und uns auf subtile Weise zur Ängstlichkeit zu erziehen. … Wie eine schwarze Wolke schwebte die Sorge über mir, dass schöne Momente nicht wiederholt werden können, dass ich Menschen vielleicht zum letzten Mal sehe. Diese Furcht war nie konkret, immer abstrakt. In manchen Augenblicken fühlte sie sich für mich als Kind unkontrollierbar und unausweichlich an." Julia Leeb wollte unbedingt fotografieren: "Die Kamera war das einzige Instrument, das das unerbittliche Verfließen der Zeit aufzuhalten vermochte." Sie wollte in die "toten Winkel unserer Welt" schauen, als "Chronistin der Gegenwart" und als "Zeitzeugin politischer Langzeitentwicklungen". 

In den Fernsehnachrichten, im Internet heute sehen Zuschauer nur Momentaufnahmen, hören beständig Kommentare und Analysen, nehmen Schaubilder und Statistiken wahr. Julia Leeb lebt und arbeitet mitten im Feld, auch inmitten existenzieller Bedrohungen, etwa wenn sie auf dem Tahrir-Platz in Kairo akut in Lebensgefahr gerät. Diese Erfahrungen beschreibt sie eindrücklich und anschaulich: "Die Panik der Massen hat mich in ihren Sog gezogen, in dem ich langsam zu ertrinken drohe. … Für sie bin ich kein Mensch mehr, keine Frau, ich bin eine Beute, von der jeder ein Stück abhaben möchte." Sie entkommt gerade soeben, mit Glück, dank hilfsbereiter Sanitäter, in einem Krankenwagen. Sprachlos und entsetzt bleiben die Leser zurück. Julia Leeb möchte davon nicht schweigen – und sie spricht auch über die tiefe Humanität, die eine "tiefverschleierte Frau und mehrere Kinder" zeigen: "Alle überhäufen mich mit Entschuldigungen. »Ägypten ist nicht so, Ägypten ist anders«, beteuern sie. Mich rührt diese Geste fast zu Tränen. Sie bitten um Verzeihung für das, was diese Verbrecher getan haben." Solche Gewalttäter gibt es, das schreibt Julia Leeb auch, überall auf der Welt. Ägypten wird anschaulich beschrieben, ein Land wie ein "Dampfkessel", der explodieren musste. Als das Mubarak-Regime zu Ende ging, lag ein Hauch von Freiheit über Ägypten: "In diesem Moment sind heute alle in Euphorie vereint. Morgen wird nichts mehr so sein wie zuvor." Nichts ist mehr so wie zuvor, das mag stimmen – aber der Traum von Freiheit erweist sich schnell als Illusion.

Julia Leeb reist 2012 und 2013 nach Nordkorea, das "abgeschnitten vom Rest der Welt" ist. Die Reisenden können nicht telefonieren, nicht ins Internet: "Alle Bilder, die ich aus Nordkorea kannte, sind grau und düster. Aber die Wahrheit ist, dass die Sonne auch hier scheint. Auf der Fahrt zum Hotel versuche ich, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln. Menschen laufen in Reih und Glied zur Reissaat. Einzelne putzen überdimensionierte Monumente mit einem Besen. An einer Bushaltestelle jäten Wartende Unkraut. Die Menschen auf den Straßen beachten uns nicht. Sie tun so, als seien wir nicht da, schauen durch uns hindurch. Nur Kinder in der Trambahn werden ab und zu einen Blick auf uns und winken uns neugierig zu. … Es kommt mir vor, als seien wir in einem Theaterstück gelandet, in dem die gesamte Stadt die Bühne ist, die Einwohner die Statisten und wir das Publikum." Die Kommunikation mit Nordkoreanern ist schwierig, aber nicht unmöglich. Die Situation bleibt sehr besonders. Im Hotel sitzen "Männer mit übergroßen Militärmützen" an der Rezeption. Alle Bürger benutzen draußen den Zebrastreifen, obwohl kaum Autos fahren: "Ein Verkehrspolizist regelt den nichtexistenten Verkehr. Seine Uniform wirkt wie ein Kostüm. Seine vorschriftsmäßige Gestikulation ohne jegliche Wirkung hat etwas von Slapstick. Wie würde dieser stolze Mann wohl, bei einer Öffnung des Landes, seine absolut sinnlose Tätigkeit der Außenwelt erklären?" Nordkorea wirkt wie ein "Land in einer isolierten Zeitkapsel". Aber auch in Nordkorea gibt es Momente großer Menschlichkeit, an die sich Julia Leeb erinnert: "Ich sehe zu, wie Joon mit einer meiner Freundinnen Tischtennis spielt und dabei übers ganze Gesicht strahlt. Am Ende umarmt er sie freundschaftlich. Jetzt befindet er sich endgültig im Schlangenschnapshimmel." Diese Berichte zeigen der Leserschaft: Wir leben in einer bemerkenswerten, bizarren und sehr vielfältigen Welt. Julia Leeb berichtet von Gier, Zerstörung und Gewalt, von triumphierendem Hass und dann von der Schönheit von Freundlichkeit, Güte und Humanität. So schreibt sie in ihrem Nachwort: "Denn Frieden fängt im Kleinen an." Wer möchte darauf nicht hoffen? Den Glauben an das Gute hat sich Julia Leeb bewahrt: "Da, wo man es nicht vermutet, traf ich Menschen, die ständig in den Abgrund blicken, ohne selbst hinuntergezogen zu werden. Die sich Hass und Zerstörung aussetzen, ohne den Glauben an das Gute zu verlieren. Die heilen, lehren, teilen. Die den Mut haben, als Erstes zu vergeben. Die an die Gemeinschaft und an die Zukunft denken. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht morgen. Doch am Ende sind es sie, die gewinnen." Die Hoffnung, von der sie erzählt, ist fragil. 

Dieses wichtige Buch ist eine Herausforderung für alle Leser. Wer diese Berichte aufmerksam liest und Julia Leebs Fotos betrachtet, macht unvergessliche Erfahrungen mit Texten und Bildern. In die Berichte vom Krieg ist aber – oft ganz leise – eine schier unzerstörbare Zuversicht eingezeichnet. Auch ich glaube an die Hoffnung dieser mutigen Journalistin, die Unvorstellbares gesehen und erlebt hat, und ich möchte mit ihr daran glauben, dass das Gute gewinnt. Dieses ausgesprochen wichtige, außergewöhnliche Buch einer außergewöhnlichen Frau ist unbedingt empfehlenswert.


von Thorsten Paprotny - 05. August 2021
Menschlichkeit in Zeiten der Angst
Julia Leeb (Fotografie)
Menschlichkeit in Zeiten der Angst

Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt
Suhrkamp 2021
234 Seiten, gebunden
EAN 978-3518470756