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Robert Misik: Die falschen Freunde der einfachen Leute

Ganz normale Menschen?

Pierre Bourdieu dachte über die "feinen Unterschiede" in der Gesellschaft nach, Michel Foucault beschrieb die Formen und Mechanismen der Diskursgesellschaft – und konstruierte ganz eigene Theorien, die heute von etlichen Intellektuellen mit der objektiven Wirklichkeit identifiziert werden. Die ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft bestehen aber fort, auch wenn sie geleugnet oder ignoriert werden. Der österreichische Journalist und politische Autor Robert Misik indessen diagnostiziert Entfremdungsprozesse in der modernen Gesellschaft und wirbt für Empathie mit den "einfachen Leuten", also mit den ganz normalen Menschen.

Misik legt dar, dass viele Zeitgenossen hilflos wie "voraussetzungsreich" über die "kleinen Leute" nachdenken und räsonieren. "Ressentimentgetriebene Populisten" wie "Rechtsextremisten" gerieren sich als "Fürsprecher", die politische Linke vermutet teilweise, dass eine "Reichensteuer" genügte, dass die "Angehörigen der entsprechenden Milieus, verlorenen Schäfchen gleich, zu ihren angestammten Vertretungen zurückkehren". Es gibt zahllose Theorien über die Bevölkerung, über die ehemalige oder auf andere Weise noch bestehende Arbeiterklasse – und noch mehr Ignoranz. Rechte Parteien bekunden einen "sozialnationalistischen Volksgemeinschaftspopulismus" und schüren Feindseligkeiten, die "Untergruppen" der einfachen Leute werden gegeneinander aufgehetzt, etwa "Inländer gegen Ausländer" oder "angebliche Fleißige gegen Faule", dies alles "nur um das in Zwist versetzte Volk besser regieren zu können". Den meisten Bürgern, die diese Parteien wählen, so Misik, sei das auch klar. Sie hätten das bestimmende Gefühl, "dass ohnehin keine politische Partei – weder die radikalen Rechten noch die Konservativen, noch die traditionellen Linken – eine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben würde, die ihren Interessen folgte". Es gebe aber auch weitere "zweifelhafte Freunde", nämlich die "Medienleute aller Schattierungen", die "völlig fantastische Vorstellungen" hegten und "das Volk mal idealisieren, mal zum Klischeevolk herabwürdigen". Die "reale Buntscheckigkeit" der ganz normalen Menschen werde nicht erkannt. 

Eine Demokratie, die immerzu den Konsens erstrebe, werde nicht lange eine Demokratie bleiben, so argumentiert Misik mit dem Historiker Tony Judt. Die "große politische Leerstelle" werde dann von rechten Extremisten besetzt, die sich als die "alleinige Alternative zum großen Einheitsbrei" präsentierten. Indessen würden die "Narrative der Populisten" durchaus nicht so verfangen, wie angenommen werde. Viele Menschen "beklagen den Verlust an sozialen Netzwerken in ihrer Lebenswelt". Sie wünschen sich nicht neue befristete Arbeitsverträge, sondern eine Perspektive namens Stabilität. Zugleich haben zahlreiche Bürger "das Gefühl, dass sich niemand für sie interessiert". Die Analyse hierzu bleibt aber einseitig, vereinfachend und problematisch: "Nicht dass Migranten geholfen wird, regt die Leute primär auf, sondern dass sie das Gefühl haben, dass ihnen nicht einmal jemand zuhört." Ausländerfeindlichkeit ist noch immer eine bittere gesellschaftliche Realität – quer durch die Bevölkerungsschichten hindurch. 

Wenn nebulös über die Notwendigkeit von Transformationsprozessen gesprochen wird, so Misik, scheint sich eine ökonomisch saturierte Parallelgesellschaft zu zeigen, die von einschneidenden Veränderungen entweder profitiert oder unabhängig bleibt. Die "beschleunigte Modernisierung" schreckt ab und vermittelt den Eindruck, mit den eigenen "Wertvorstellungen auf verlorenem Posten zu stehen". Es gebe ein "ökonomisches Standbein" und ein "politisches Spielbein": "Wenn ökonomischer Strukturwandel dazu führt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen weniger gewinnen als andere (oder gar etwas verlieren), ist es nur logisch, dass sie darauf reagieren." Der Autor beschreibt Phänomene, ohne sie zu bewerten.

Für unzutreffend hält Misik auch die Annahme, dass es die Arbeiterklasse nicht mehr gebe, die "fantasierte Kompaktheit" dieser habe es nie gegeben – er nennt eine Reihe an Berufen, die heute berücksichtigt werden müssen, von der Altenpflegerin über den Zugbegleiter bis zum "arbeitslosen Fiftysomething" in seiner "dritten sinnlosen Umschulungsmaßnahme". Auch in "Kreativmilieus" arbeiteten gebildete, vielfach kompetente Menschen, Akademiker, die "oft für wenig Geld und ohne jedes Sicherheitsnetz" tätig sind – "vom Click-Worker bis zur App-Programmiererin". Misik folgert: "Ob man zufrieden mit dem existierenden System ist oder ob man sich … als bedrängt und machtlos erlebt, hängt noch stärker als vom Einkommen (wobei das natürlich miteinander verbunden ist) vom Maß an existenzieller Sicherheit ab, das man verspürt." Menschen streben verständlicherweise nicht nach Flexibilität und Mobilität, sondern nach Sicherheit. Robert Misik legt dar: "Sicherheit ist nämlich, anders als uns der heutige Zeitgeist glauben machen will, nicht das Gegenteil von Selbstverwirklichung und Individualismus, sie ist deren Voraussetzung. Nur wer sicheren Boden unter den Füßen hat, kann auch Risiken eingehen. Nur wer Planungssicherheit hat, kann auf dem zweiten Bildungsweg Kompetenzen erwerben, die für eine gute Karriere nötig sind." Nun muss man dieses ökonomische Begriffsrepertoire nicht billigen – zum Beispiel "Karriere" –, es verhält sich auf andere Weise nämlich sehr viel einfacher: jeder Mensch wünscht sich ein gutes Leben, für sich und seine Familie. Misik spricht zwar auch noch über die existenzialistische Fantasie, die als Ziel ausgegeben wurde, "etwas Besonderes sein zu wollen", aber das ist nur eine Überreizung, eine virulente Illusion der Postmoderne. Ganz normale Menschen haben Freude daran, ihre Kinder aufwachsen zu sehen und zu erziehen. Sie schätzen das Leben im Verborgenen, ohne deswegen bieder oder spießig zu sein. Eine Reise ans Meer oder in die Berge kann einfach nur schön sein. Das Besondere ist oft das Alltägliche. Es geht vielleicht nur darum, ohne große materielle Sorgen im Frieden zu leben und zu sterben. In der Welt von heute jedoch wird die Veränderung glorifiziert: "Je verletzlicher die Position, umso weniger will man vom Wandel hören. Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich weiterentwickelst oder ein Start-up gründest. Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst."

Anders gesagt: Wer Veränderungen als eine Chance begreift, der muss nicht um seine Existenz fürchten. Wer sich aber "von Befristung zu Befristung" hangelt oder "wider Willen in Teilzeit gefangen ist", mag den Lobpreis des Wandels nicht mehr hören – verständlicherweise. Vor allem möchte niemand ein "Spielball anonymer Kräfte" sein und "unter dem Eindruck stetiger Verletzungserfahrungen" durchs Leben gehen. Viele Menschen bräuchten, so meint Misik mit Blick auf heutige Rassismus-Debatten, "keine Lektion über Rassismus, sondern ein Gespräch über Angst". Genügt das? Misik sagt, ein "Gespräch auf Augenhöhe" sei immer nötig und wichtig: "Wer Empathie für die Verwundungserfahrungen von Minderheiten einfordert, hat viele gute Argumente auf seiner Seite, wer aber Empathie für die Verwundungserfahrungen der einheimischen arbeitenden Klassen anmahnt, ebenso."

Robert Misik plädiert für Empathie "mit jenen, denen Ungerechtigkeit widerfährt", und für ein positives Menschenbild. Zugleich spricht er sich gegen "Gehässigkeit" aus. Eine "Aversion gegen alle Hochnäsigkeit", gegen jede Form von Arroganz, hält er für ausgesprochen nützlich – und ausgesprochen nützlich, lesens- und bedenkenswert ist dieses schmale Buch. Die Abweisung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in jeder Form hätte der Autor stärker betonen können, ja schärfer akzentuieren müssen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen und kritisch wie kontrovers über Misiks Analysen und Thesen zu diskutieren. 


von Thorsten Paprotny - 19. Dezember 2021
Die falschen Freunde der einfachen Leute
Robert Misik
Die falschen Freunde der einfachen Leute

Suhrkamp 2020
138 Seiten, broschiert
EAN 978351827414