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Sue Prideaux: Ich bin Dynamit

Dynamit Nietzsche

"Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich meine Mutter und Schwester, - mit solcher Canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit." Friedrich Nietzsche (1844-1900) wurde mit vier Jahren zur Halbwaise. Seine um ein Jahr jüngere Schwester Elisabeth und seine Mutter Franziska bestimmten sein Leben, obwohl er sich zeitlebens von der sog. "Ketten-Krankheit" lösen wollte. Als er 1888 dem Wahnsinn verfiel, nahmen ihn Franziska und Elisabeth wieder bei sich auf. Auch das ist seine Tragödie, dass er noch 12 Jahre im Siechtum verbrachte, in der Obhut jener beiden Menschen, vor denen er stets geflüchtet war.

Inspirator einer Generation

Sue Prideaux lässt Nietzsches Biographie mit seiner Freundschaft zu Richard und Cosima Wagner beginnen, denn kaum kann man Nietzsche denken, wenn man nicht auch Wagner sagt. Das große Verdienst von "Ich bin Dynamit" liegt sicherlich darin, dass die Biographin Nietzsche von dem nationalistischen und antisemitischen Mist befreit, den seine Schwester Elisabeth ihm andichtete. Denn sie war die Nachlaßverwalterin geworden und konnte frei über sein Werk verfügen. Gemeinsam mit Bernhard Förster hatte sie in Paraguay die Kolonie "Nueva Germania" gegründet, ein Geschäftsmodell, das besonders auf der Ausbeutung gutgläubiger Handwerker und Auswanderer beruhte. Elisabeth war nicht nur von der Überlegenheit der "deutschen Rasse" überzeugt, sondern auch noch Antisemitin. Auch darin lag ein ewiger Zwist mit ihrem Bruder Friedrich, der sich gegen Vereinnahmungen von dieser Seite Zeit seines Lebens wehrte. Viel eher zählte er als Vorbild der "Generation Raskolnikow", die Ende des Jahrhunderts einen Nietzsche-Kult betrieben, der etwa sogar einen Maler wie Edvard Munch zu seinem berühmten Gemälde "Der Schrei" inspiriert haben soll, so die Autorin, die schon Biographien zu August Strindberg und Munch verfasst hat. Zu seinem 50. Geburtstag verkauften sich endlich seine Bücher, aber Nietzsche bekam nichts mehr davon mit. Stattdessen finanzierte sich seine Schwester, die "geschäftstüchtige Unternehmerin", ihren mondänen Lebensstil indem sie sogar ihre eigene Mutter aus den Nachlassrechten rauszahlte.

Argonaut und Wanderer

Bleiben noch seine scheinbar so frauenfeindlichen Aussagen wie "Wenn du zur Frau gehst, vergiss die Peitsche nicht" aus seinem Hauptwerk "Also sprach Zarathustra". Prideaux recherchierte ein Foto auf dem Paul Rée und Friedrich vor einen Ochsenkarren gespannt die darauf eine Peitsche schwingende Lous Salomé ziehen. Die drei hatten eine Weile lang in einer Ménage-à-trois eine Beziehung geführt, ähnlich wie zuvor mit Richard und Cosima, rein platonisch selbstverständlich. Von Rée hatte Nietzsche die Kunst des Schreibens in Aphorismen gelernt, den "Réealsimus". Prideaux erzählt auch von Nietzsches vielen Wohnorten und Reisen, nach Genua, Nizza, Turin, Venedig, Bayreuth, aber auch Sils Maria, das er stets liebte, mit seinem "Klumpfuß" (sein 104 Kilo schwerer Bücherkoffer) im Schlepptau. Der "Argonaut des Geistes" verlor gegen Ende seines Lebens aber nicht nur seinen Verstand, sondern zuvor schon 7/8 seines Augenlichts. Der halbblinde Wandersmann, der früher Spaziergänge in den Bergen von bis zu 5 Stunden ohne mit den Augen zu zwinkern absolvierte endete im Rollstuhl auf einer Veranda in Naumburg - genau da, wo er herkam. Doch der Ehrgeiz seiner Schwester brachte ihn noch nach Weimar, in die Nähe der deutschen Genies Schiller und Goethe. Man möchte noch hinzufügen: "höchster Superlativ von Dynamit", wenn man diese ausgezeichnete und lesenswerte Biographie beschreiben möchte.


von Juergen Weber - 03. Juli 2020
Ich bin Dynamit
Sue Prideaux
Thomas Pfeiffer (Übersetzung)
Hans-Peter Remmler (Übersetzung)
Ich bin Dynamit

Das Leben des Friedrich Nietzsche
Klett-Cotta 2020
560 Seiten, gebunden
EAN 978-3608982015