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Annette Mingels: Tontauben

Die Liebe im Schatten der Schuld

In ihrem neusten Buch "Tontauben" (2010) beschäftigt sich Annette Mingels mit verschiedenen Formen von Schuld und Verlust. Diese werden von einem dünnen roten Faden, welcher die Liebe sein könnte, zusammen gehalten. Nicht die, die sich in den Armen liegen, sind die einander Liebenden, nein, die Verbindung geht von den zentralen Figuren nach aussen, zu den Menschen, die zwar nur am Rande der beiden Erzählungen "DANACH" und "DAVOR", gleichzeitig aber im Mittelpunkt allen Geschehens stehen.

"DANACH" erzählt die Geschichte von David und Anne, die mit dem tragischen Verlust der dreizehnjährigen Tochter Yola und einem Leben danach ringen. Die Erzählung setzt ein Jahr und zwei Tage nach dem tödlichen Unfall ein und fokussiert in erster Linie Annes Suche nach einem neuen, nach einem möglichen Leben. Der erste Weg führt zur Selbsthilfegruppe, in der Anne ihr Leid aber nicht geteilt, sondern vervielfacht sieht. Bei Tristan, dem Psychologen sucht sie nach alternativen Berufsmöglichkeiten: "Ich muss mich neu orientieren, so sagt man doch, nicht wahr? Neu beginnen. Irgendwas. Alles." Der Richtungswechsel manifestiert sich in der neuen Tätigkeit als Maklerin und einer Affäre mit Tristan. Diesen begehrt sie jedoch nur so lange, wie Tristan vorgibt, nichts vom tödlichen Unfall Yolas zu wissen. "Was ich an dir mochte, war deine Ahnungslosigkeit. Dass ich bei dir nicht die war, die das Kind verloren hat. Bedauernswert. Mitleid erregend. Ich glaube fast, das war alles."

David und Anne hören einander nicht, stossen stumme Schreie aus und entfernen sich dabei immer weiter voneinander. Die Insel in der Nordsee, Schauplatz der Geschichte, wird zum inneren und äusseren Gefängnis. Beide scheitern am Schmerz des anderen und doch klammern sich daran. Vielleicht ist es die vorerst einzige Möglichkeit, Yola am Leben zu erhalten.

Es ist die erste Geschichte, die berührt. Die zweite Geschichte, die der ersten zeitlich voran geht, und ebenfalls auf derselben Insel spielt, ist von bedeutend kühlerem Charakter. Stellenweise fragt man sich, ob sie überhaupt notwendig ist. Frank und Esther, beide Mediävisten, lernen sich auf einem Kongress kennen und beginnen - nicht zuletzt aus Langeweile - eine Affäre, verlängern den Aufenthalt auf der Insel und steuern vielen Fragen und dem für die erste Geschichte relevanten Unfall entgegen. Obwohl es von Beginn weg klar ist, dass Frank und Esther für den Tod des Mädchens verantwortlich sein würden, wird der entscheidende Moment lange hinaus gezögert. Die Zuspitzung auf das Ende der Geschichte ist denn auch die Stärke der zweiten Erzählung.

Es bleibt jedoch die Frage nach der Glaubwürdigkeit. "[…] etwas prallte gegen den Kotflügel, ein Klirren, als würden zwei Metallstücke gegeneinanderschlagen, aber das konnte auch Teil der Musik sein." Esther fragt sich, ob da nicht etwas war vorhin, "war da ein Tier? Meinst du, wir haben ein Tier angefahren? Kann das sein?" Die Beiden fahren zurück, suchen den Weg ab, finden aber nichts. Ist es möglich, ein am Boden liegendes, 13jähriges Mädchen und dessen Fahrrad zu übersehen?

Natürlich sind für das Buch die Folgen des Unglücks wichtiger als das Unglück selbst, doch müsste man dem Hergang des Unglücks Glauben schenken können, sonst wird die Fügung zum Konstrukt. Erneut drängt sich die Frage auf, inwiefern es die zweite Erzählung braucht. Würde nicht die erste an Kraft gewinnen, wenn der Kontrast, die Spiegelung an Frank und Esthers Beziehung weg fiele? Die Themen der ersten Geschichte (der Verlust des eigenen Kindes, das Leben danach mit all seinen Schwierigkeiten, Schuldgefühlen, Identitätssuche und Neuorientierung) scheinen emotional gewichtig genug, als dass sie anhand einer weiteren Form von Schuld, die in der zweiten Erzählung in erster Linie anhand des Ehebruchs reflektiert wird, ergänzt werden müssten.

Sprachlich überzeugt die 1971 in Köln geborene Annette Mingels in "Tontauben" wie in keinem Buch zuvor. Sie wählt eine sachlich trockene Sprache und meistert die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz mit sehr viel Taktgefühl. Annette Mingels holt in "Tontauben" das meist mögliche an Emotionen heraus und läuft dennoch nie Gefahr, ins Kitschig-Dramatische abzudriften.


von Regula Portillo - 11. Februar 2011
Tontauben
Annette Mingels
Tontauben

Dumont 2010
176 Seiten, gebunden
EAN 978-3832196110