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Hansjörg Schertenleib: Offene Fenster, offene Türen

Machtspiele

Hansjörg Schertenleib greift in seinem erzählerischen Werk nicht selten Themen auf, die im öffentlichen Raum lebhaft und kontrovers diskutiert werden, so etwa Sterbehilfe. In seinem neuen Roman wird über eine Liebesgeschichte berichtet, die möglicherweise alles andere als eine Liebesgeschichte ist. Ein Rhythmuslehrer namens Casper Arbenz, eingeübt in "Seitensprüngen", verführt eine Schülerin – oder umgekehrt? Was überhaupt ist geschehen? 

Ein übergriffiger Liebhaber wird ertappt, gefilmt und vorgeführt. Die Feststellung, dass die Wirklichkeit, in der wir leben und über die berichtet wird, weitaus komplexer, mitunter auch komplizierter ist, mutet nahezu trivial an. Hansjörg Schertenleib erzählt davon und schildert die beteiligten Personen facettenreich, aber oft auch kalt. Caspers Frau Bettina will die Scheidung: "Die Seelenverwandtschaft, das Fundament ihrer Liebe und Ehe, soll nicht mehr existieren, weil er mit einer Schülerin Sex hatte?" Mit Fragen und Gedanken wie diesen beschäftigt sich der Lehrer. Die Schülerin, 19 Jahre alt, heißt Juliette Noirot, auch Julie genannt. 

Erst tranken der 55 Jahre alte Arbenz und die junge Frau einen Kaffee und unterhielten sich über Jazz, "über Leidenschaften, Träume und Ängste": "Vier Tage später verabredeten sie sich zu einem Spaziergang im Stadtgarten, wo sie auf einer Parkbank knutschten, um die aufgeladene Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag, zumindest bis zu einem gewissen Punkt abzubauen. In den darauffolgenden Tagen hat er nicht an Juliette gedacht, sondern an ihre Knutscherei und ihre Art, mit weit offenem Mund zu küssen und dabei laut zu stöhnen; er muss sich eingestehen, nicht ernsthaft daran interessiert zu sein, was sie denkt und was für ein Mensch sie ist." Was Casper und Juliette zu verbinden scheint, ist, dass sie nicht ineinander verliebt sind. Der Lehrer wird als schwach erlebt und geschildert. Juliette glaubt, "in ihrer eigenen Obhut" und "unverletzlich" zu sein. Doch Verletzungen fügen sie sich zu. Casper Arbenz erscheint als ein Mann aus dem Gestern, der ohnmächtig auch zeitgenössische Diskurse analysiert: "Rassismus ist ein System, kein Ereignis. Casper hat die Giftigkeit, mit der die unterschiedlichen Standpunkte mittlerweile vertreten werden, ebenso satt wie Hetze, Hass und Niedertracht in den sozialen Medien sowie die Leserkommentare digitaler Zeitungen. Egoismus und Empfindlichkeit junger Menschen, denen zugleich jede Empathie fehlt, geht ihm gegen den Strich." Standpunkte wie diese hemmen den Erzählfluss, und auf gewisse Weise erscheint das Buch des begabten Autors damit wie ein Thesenroman, der die Nervosität dieses Zeitalters spiegelt. Die Abwesenheit von Empathie, die Schertenleibs Protagonist hier inwendig beklagt, wird deklamiert und mit einer umgangssprachlichen Formulierung – "geht ihm gegen den Strich" – beendet. Julie unterhält sich mit dem ehemaligen Gefährten Sebastian darüber, wie sie sich von ihm beim Geschlechtsverkehr würgen, fesseln und schlagen ließ, "weil sie überzeugt war, dies vergrößere seine Abhängigkeit". Aber sie täuschte sich: "Wenn er glaubte, sie zu kräftig angepackt zu haben, entschuldigte er sich, zwei, drei Mal weinte er danach, so schlecht fühlte er sich. Für die Macht, die sie ihm verlieh, war er zu schwach."

Casper erhält ein Video zugestellt, zweiunddreißig Sekunden lang, in dem er mit Juliette zu sehen und zu erkennen ist, ihre Körper, inmitten von Notenständern und aufgestapelten Stühlen, verschmolzen "zu einer Form, die nicht genau zu definieren ist und sich ruckartig vor- und zurückbewegt". Geschildert werden verschiedene Perspektiven, die Ängste, Erregungen und Aufregungen. Casper beschreibt seine Sichtweise: "Liebe macht blind, heißt es, das macht Geilheit auch." Die Szenerie wird ausgiebig vorgestellt, so als handelte es sich um ein lustvolles Abenteuer und nicht um eine peinliche Situation: "Ich war jetzt weit über den Punkt hinaus, an dem ich mich noch hätte beherrschen und zurückhalten können. Ihre Bewegungen waren fahrig und fiebrig, seit wir ins Schulhaus zurückgekehrt waren, hatten wir kein Wort gesagt. Dann hatten wir Sex miteinander." 

Die Geschichte und ihre Folgen werden ausführlich berichtet. Zweifellos wird Schertenleibs neuer Roman beachtet werden. Ob der Autor treffend Signaturen der Zeit und der Gesellschaft beschreibt? Das mag sein. Doch die Figuren sind lieblos gezeichnet, mit Ausnahme vielleicht von Caspers Ehefrau Bettina. Es scheint, als entstammten Casper, Juliette und viele andere Gestalten einer seelisch verwüsteten Welt ohne Mitgefühl, Sensibilität, Freundlichkeit und Güte. Auch darum strengt die Lektüre dieses Romans einfach nur an.


von Thorsten Paprotny - 19. Oktober 2021
Offene Fenster, offene Türen
Hansjörg Schertenleib
Offene Fenster, offene Türen

Kampa 2021
256 Seiten, gebunden
EAN 978-3311100645