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Klaus Theweleit: Männerphantasien

Gewaltobsessionen und inszenierte Männlichkeit

Vor mehr als 100 Jahren war das Kaiserreich zu Ende und die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzversuches à la Sowjetrussland in Deutschland resp. ganz Europa alltäglich. Die "Weltrevolution" klopfte an die Türe. Aber der Klassenfeind schlief nicht. Sog. Freikorps organisierten sich im entmilitarisierten und besiegten Deutschland, um eine Sowjet-Revolution zu verhindern. Der Nationalsozialismus saß bereits in den Startlöchern.

Klassiker aktuell wie nie

Theweleits "Männerphantasien", 1977, also vor 40 Jahren, erstmals erschienen, galt lange Zeit als das Standardwerk zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Nun hat der Matthes & Seitz Verlag in einer neuen, erweiterten Ausgabe mit einem eigens geschriebenen Nachwort eine schmucke Neuauflage publiziert. Theweleit versucht darin, einen neuen Zugang zum Faschismusbegriff zu finden. Ein "Weg über die Gefühle der einzelnen Körper" trug ihn auch zu den Konfigurationen des Weiblichen, mit denen die Freikorpsler so ihre Probleme hatten. Dazu untersuchte er verschiedene Texte rechtslastiger Provenienz entlang des Geschlechterverhältnisses, um auch den "Faschisten in uns (allen)" zu stellen. Theweleit selbst befand sich damals als Vater eines Kindes im Stadium des Verfassens seiner Doktorarbeit, während seine Frau in der Klinik arbeitete. Der Autor kann also durchaus als Teil der antiautoritären Linken der Sechziger bezeichnet werden, sowohl in Theorie als auch Praxis und so liest sich sein Werk stellenweise auch wie eine persönliche Biografie, wie er auch in seinem Nachwort von 2019 freigiebig bekennt: "Ich schrieb also an einem Buch – in seinem Ton und in seiner Stoffbehandlung immer auch Autobiografie, verborgen in der Hülle einer Dissertation".

Zwischen den Zeilen lesen lernen

Klaus Theweleit ist es nicht nur gelungen, seinen ganz eigenen Ton, seinen Sound, beim Schreiben zu entwickeln, sondern er hat auch eigenes Bildmaterial beigesteuert: "Blicke von Malern, von Fotografen, von Plakatmachern, von Propagandisten, von Kinomachern, von Nazis, von Nicht-Nazis, historische Blicke, aktuelle Blicke; und – besonders relevant – Blicke von Comiczeichnern", wie er es selbst aufzählt. Entstanden ist so ein Buch über den Faschismus, der oftmals in der Frauenfeindlichkeit seiner Männer seinen eigentlichen Ursprung findet. Theweleit deckt den Zusammenhang zwischen Drill und Sexualität ebenso auf wie den nicht vorhandenen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Faschismus. Mit Hilfe von Marx, Freud, Reich demaskiert er männliche Gewaltobsessionen und die dazugehörigen Inszenierungen soldatischer Männer als echte Männer. Was das alles mit Oknophilie und Fahneneid zu tun hat und warum Prügel einen dreifachen Zug beinhalten, erfährt, wer weiterliest: "Dieses Vorgehen enthält nämlich, scheint mir, am stärksten das Eingeständnis, selber gequält worden zu sein und darunter gelitten zu haben." Aber das würde ein "echter Mann" ja nie zugeben. Interessante Einsichten in die Herkunft des Faschismus und seine Entwicklung zum Nationalsozialismus, ein Standardwerk also, auch 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen.


von Juergen Weber - 18. August 2021
Männerphantasien
Klaus Theweleit
Männerphantasien

Matthes & Seitz 2019
1278 Seiten, broschiert
EAN 978-3957577597