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Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen

Freundliche Nachbarn – Ein liebevolles Porträt über Eichhörnchen

"Lebe im Verborgenen!" Inmitten der attischen Kriege in der Antike riet der Philosoph Epikur dazu, sich in den eigenen Garten zurückzuziehen. Fernab vom Schlachtengetümmel ließ sich gut leben, zumindest überleben. Schriftsteller – wie Werner Bergengruen und Reinhold Schneider – wählten im Zweiten Weltkrieg den Weg in die innere Emigration. Auch Johann Wolfgang von Goethe, für den Kriegstrubel ausnehmend untauglich, nahm an einem Feldzug gegen jakobinische Revolutionäre teil, verbrachte seine Zeit aber mit Naturbeobachtungen. Die Waffen schweigen zwar im alten Europa, aber in den letzten Wochen und Monaten lebten wir alle in einer eigenen, sehr besonderen Zeit. Wir verweilten in Gärten, am Schreibtisch, auf Spaziergängen oder schauten einfach hinaus in die Welt vor der eigenen Haustür. Auch dort warten Entdeckungen. Von solchen Naturkunden des Alltags berichtet der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf in seinem neuen Buch. Er stellt uns die Lebenswelt eines putzigen Geschöpfes vor, das unsere Nähe nicht scheut – und unsere Wege säumt. Nicht wenigen zaubert der Anblick eines Eichhörnchens ein Lächeln auf die Lippen. Reichholf macht den Leser mit den Lebensgewohnheiten unserer tierischen Nachbarn vertraut und erzählt auch Episoden aus der Kulturgeschichte.

Die Leichtigkeit dynamischer Bewegung der artistisch begabten Lebewesen beobachten und bestaunen auch viele Stadtbewohner in ihren Vorgärten. Vor Menschen fürchten sich Eichhörnchen zumeist nicht. Der Anblick von Zweibeinern führt selten zu überstürzten Fluchtbewegungen. Bis zu 10 Jahre können Eichhörnchen alt werden. Zu ihren natürlichen Feinden gehören Vögel, etwa Krähen und Habichte, Marder und Autos, also auch das bekanntlich vernunftbegabte, manchmal mörderische Lebewesen Mensch, das weder den Planeten Erde noch Flora und Fauna allzu pfleglich behandelt. Eichhörnchen und Ratten sehen sich zwar nicht sehr ähnlich, sind aber miteinander verwandt. Ausgestreutes Gift tötet auch die uns freundlich gesinnten Eichhörnchen.

Reichholf berichtet von einer Rettungsaktion: "Mit einem vom Himmel gefallenen Eichhörnchen fing es an. Eine Frau ging im Münchner Norden gerade auf den Hof hinaus, als ihr etwas Kleines vor die Füße fiel. Es war ein winziges Eichhörnchenbaby. Zwei große dunkle Kugeln am Köpfchen, die Augen, waren daran am auffälligsten." Wahrscheinlich hatte eine Krähe das Tier fallengelassen. Es lebte. Was nun? Was tun? "Das Eichhörnchen sollte unbedingt überleben. Dafür würde sie alles auf sich nehmen. Das klang so überzeugend, dass ich ihr riet, das Baby nachts in einem Stoffsäckchen zu sich zu nehmen. So würde ihr eigener Körper diesem Winzling die richtige Wärmezufuhr garantieren. Auch das akzeptierte sie bereitwillig." Das Eichhörnchen, Maxi genannt, überlebte und lebte lange unter Menschen – eine "artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung" machte das möglich: "Die Entfremdung des Menschen von der Natur nimmt zu. Weil zu viel verboten worden ist, ohne dass die Wirksamkeit und Notwendigkeit der Verbote überprüft wurde. … Die private Tierhaltung ist genehmigungspflichtig gemacht worden, die Massentierhaltung aber unterliegt keiner wirklichen Einschränkung." Auch die Nester junger Eichhörnchen dürfen von der Forstwirtschaft einfach so vernichtet werden. Wer ihnen aber ein Obdach schenkt, braucht dafür eine Genehmigung.

Heutzutage gehören Eichhörnchen auch zur Stadtbevölkerung. Menschen schauen freudig ihrem Treiben zu, besonders Kinder. "Warum finden wir Eichhörnchen so nett, so herzig? … Unser Empfinden wehrt sich dagegen, sie einfach als Nagetiere, als Verwandte von Mäusen und Ratten anzusehen. Sie plündern zwar auch Vogelnester. Vogelschützer wissen dies." Dem "flinken Hörnchen", den perfekten Kletterern, schauen viele nach. Besonders gut können sie springen. Der Kopf ist, anders als der spitze Mäusekopf, eher rundlich: "Das macht das Eichhörnchengesicht so nett." In der Philosophischen Anthropologie etwa wird der Mensch – von Friedrich Nietzsche – als das "noch nicht festgestellte Tier" bezeichnet, eine Kreatur also, die sich förmlich erst die eigene Lebenswelt gestalten muss, um überleben zu können. Ebenso ist das Eichhörnchen weitgehend unabhängig von "eng umgrenzten Umweltbedingungen". Gekennzeichnet ist seine "ökologische Nische" durch Nahrung. Wo es sich gut durchfuttern kann, dort kann es auch leben. Energiereiche Nahrung, etwa Haselnüsse, ebenso die Samen von Fichten und anderen Koniferen, werden dringend gebraucht. Vom "Diktat der Umwelt" sei das Eichhörnchen also, ähnlich wie der Mensch, ein wenig emanzipiert. Im Gegensatz zu vielen selbstbewussten Zweibeinern bildet es sich darauf aber nichts ein. Zu den auffälligen Besonderheiten des Eichhörnchens gehört der Schwanz: "Der buschige, zumeist elegant geschwungen gehaltene Schwanz beeinflusst den Gesamteindruck besonders stark. Mit seinen weit abgespreizten, bis zu zehn Zentimeter langen Haaren sieht er fast ähnlich groß aus wie das Eichhörnchen selbst. … Eichhörnchen sind immer wachsam. … Im Bruchteil einer Sekunde wird es woanders sein." Ein angreifender Feind bekommt manchmal dann nur den Schwanz zu fassen. Die Beute ist selten mehr als eine Handvoll Haare, etwas Haut, aber nicht das Eichhörnchen, das rasch entkommt und den erlittenen Verlust leicht verschmerzen kann: "Doch die Schwanzhaare signalisieren auch anderen Eichhörnchen Wichtiges. Äußerlich bestens sichtbar, drücken sie die innere Stimmung aus, ob diese erregt ist oder ruhig, ob die Annäherung eines anderen Eichhörnchens einigermaßen willkommen ist oder heftig abgelehnt wird. Eichhörnchen mögen einander bei Weitem nicht so sehr, wie wir meinen möchten, weil sie so nett aussehen. Nett zueinander sind sie eigentlich nie, von der Beziehung der Jungen zu ihrer Mutter abgesehen." Eichhörnchen meiden die Dunkelheit, bewegen sich am liebsten in einer "Welt des Lichts, der Bilder, Formen und Bewegungen". Die "Lebensform Eichhörnchen" ist komplex: "In Wäldern und Parks ist es ein Unikat. Mit keinem anderen Tier verwechseln wir es." In den Städten, so Reichholf, führt es ein besseres Leben als in den Wäldern, denn dort, wo Menschen leben, gebe es Gärten mit Sträuchern und Bäumen: "Ein Großteil der Fichten, die unsere Wälder bilden, steht am falschen, weil nicht naturgemäßen Platz. Ganz folgerichtig fügen ihnen zu trockene Sommer und die Borkenkäfer große Schäden zu."

Im Schwabenland werde behauptet, der Teufel sei ein "Eichhörnle". Auch den "Sittenwächtern des ausgehenden Mittelalters" missfiel das "possierlich" anmutende Tier. Schon die Katze galt als moralisch unzuverlässig. Bienenfleiß wurde gelobt, ebenso die Treue von Hunden. Aber ein possierliches Lebewesen? Das konnte nur gefährlich sein. In dem Begriff "possierlich" klinge bereits "poussieren" an, also "intensiveres Flirten oder ein sich anbahnendes Liebesverhältnis": "Gesittetes Verhalten hatte sich in allen Lebensbereichen zu äußern. Gemessenen Schrittes mit gesenktem Blick bewegte sich die werdende Dame in der Öffentlichkeit. Neugierig und keck zu sein, galt als Risiko, vom Bösen erfasst zu werden." So brauchte auch noch das Eichhörnchen ein wenig Zeit, um zum Sympathieträger zu avancieren. Josef Reichholf wirbt für Empathie: "Tiere sind Lebewesen mit individuellen Eigenschaften, keine Objekte, zu denen sachliche Distanz zu halten ist. … Die Stadt ist das große Testfeld für viele Arten, die versuchen, mit der Menschenwelt zurechtzukommen. Die Chancen, dass ihnen dies gelingt, stehen gut; jedenfalls besser als in der sogenannten freien, jedoch für sie so gefährlichen Natur." Die Tiere in der Stadt sollten nicht geringgeschätzt werden, sie seien "keine Natur zweiter Klasse". Vor unserer eigenen Haustür beginnen die Naturkunden des Alltags. Zu staunenden Blicken in den eigenen Garten lädt Josef Reichholf ein. Wir schauen Eichhörnchen an – und manchmal erwidern sie unsere Blicke.


von Thorsten Paprotny - 22. Juni 2020
Das Leben der Eichhörnchen
Josef H. Reichholf
Johann Brandstetter (Illustration)
Das Leben der Eichhörnchen

Hanser 2019
176 Seiten, gebunden
EAN 978-3446264076