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Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund

"Kritische Theorie" und kritische Theoretiker

Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften meiner Generation lernten die wirkmächtigste Strömung des 20. Jahrhunderts in Frankfurt und anderswo an ihren Fakultäten kennen. Die "Dialektik der Aufklärung" gehörte zum wissenschaftlichen Handgepäck im Diskurs der Moderne. Selbst der emeritierte Papst Benedikt XVI. zitierte in seinen Enzykliken aus den Werken von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. An der "Kritischen Theorie" kam niemand vorbei. Doch was bleibt von den Denkern und ihren Werken? Der britische Wissenschaftsjournalist Stuart Jeffries nimmt sich in seinem breit angelegten, detailreichen Buch viel Zeit für die prägenden Gestalten, für ihre Lebenswege und Werke, ebenso für ihr Beziehungsgeflecht untereinander. Er porträtiert mit teilnahmsvoller Sympathie anregende, auch aufregende und prägende, eigensinnige und profilierte Denker.

Engagierte aus der 1968er-Studentenbewegung suchten nach Unterstützung. Doch Adorno und Horkheimer verweigerten sich diesem Ansinnen nachdrücklich. Nur Herbert Marcuse hegte Sympathien für den Aufbruch, die Revolte und deren Protagonisten. Adorno richtete sich auf die Kunst aus, Barrikaden, Gewalt und den unheilvollen Einfluss der Protestler auf die Universitäten lehnte er rigoros ab. Jeffries zitiert dessen bekannte Äußerung: "Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollten?" Wenig später stirbt Theodor W. Adorno im Alter von 65 Jahren an einem Herzinfarkt. Er suchte Ruhe und Abgeschiedenheit in den Bergen und überanstrengte sich mutmaßlich bei einer Wanderung. Die Denker der "Frankfurter Schule" waren Gelehrte, vertraut mit dem Handwerk des Denkens, zumeist aus bürgerlichen Verhältnissen stammend. Zu "Straßenkämpfern" wussten sie sich nicht berufen. Adorno erkannte in den "Neuen Linken" Wiedergänger des "autoritären Persönlichkeitstypus" aus der NS-Zeit, ebenso den damit einhergehenden "Geist des Konformismus": "Beide gerierten sich als antiautoritäre Bewegungen, reproduzierten dabei jedoch gleichzeitig die repressiven Strukturen, die sie angeblich überwinden wollten." Jeffries schreibt, dass die Denker sich in einen "nichtrepressiven intellektuellen Raum" zurückzogen, eine Freiheit pflegten, die "melancholischer Art" sei, weil sie "aus dem Verlust an Hoffnung auf echte Veränderung" entstünde. Gesellschaftskritik betrieben Denker wie Adorno, Horkheimer und andere theoretisch konsequent, aber kampfbereit waren sie nicht. Hat sich die "Kritische Theorie" heute überlebt? Jeffries schreibt, dass die "Herrschaft der Kulturindustrie und der Konsumzwänge" heute noch ausgeprägter sei als damals: "Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der Nationen und Nationalismen eine Schlüsselrolle spielen, sondern in einem globalisierten Markt, auf dem wir vordergründig frei sind zu wählen – wenn allerdings die Diagnose der Frankfurter Schule zutrifft, dann können wir nur das wählen, was immer dasselbe ist, nur das, was uns geistig abstumpfen lässt und in uns die Bereitschaft wachhält, uns widerspruchslos einem repressiven System zu unterwerfen."

Die Beschäftigung mit der "Frankfurter Schule" ist also nicht allein geschichtlich zu begreifen und einzuordnen. Die Vergegenwärtigung der Lebensgänge von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Walter Benjamin, Friedrich Pollock oder Max Horkheimer ist zwar für sich genommen interessant, wichtig aber bleibt die "Kritische Theorie" als Denkansatz für die Gegenwart. Ausführlich beschreibt Stuart Jeffries die Lebenswelten und Biografien. Die Denker wuchsen aufgrund der "Geschäftstüchtigkeit ihrer Väter" in "komfortablen Welten" auf. Die politischen Systeme und die ökonomischen Bedingungen, auf denen diese beruhten, reflektieren sie kritisch, ja sie "verurteilten gleichzeitig die Werte, für die ihre Väter standen". Somit handelt es sich um einen ganz persönlichen, unterschiedlich ausgeprägten Emanzipationsprozess. Mitnichten sind die Denker einseitig interessiert. Max Horkheimer hegt bereits in jungen Jahren, bei aller Affinität zu Marx, große Sympathien für Schopenhauers pessimistische Metaphysik. Besonders die "Vorstellung von menschlichem Mitleid als Movens, welches das Leiden lindern kann", sprach Horkheimer an. Benjamin beschäftigte sich mit Franz Kafka, sei wie dieser "lebensuntüchtig" gewesen, "jedenfalls nicht tüchtig für ein Leben, wie es den Erfordernissen der modernen kapitalistischen Welt entspricht". Adorno liebte die moderne Musik. Doch Bertolt Brecht und Georg Lukács äußerten sich verächtlich und abschätzig über die sich bildende "Frankfurter Schule", denn die Intellektuellen und Gelehrten hätten sich "wie Opernbesucher" im "Grand Hotel Abgrund komfortabel niedergelassen". Deren Institut wurde auch als "Café Marx" verspottet. Die Denker waren solide, kenntnisreiche Handwerker und Arbeiter am Schreibtisch: "Die Neomarxisten der Frankfurter Schule waren Mönche der Moderne, die ihrer Arbeit in der Zurückgezogenheit vor einer Welt, die sie nicht ändern, von einer Politik, die sie nicht beeinflussen konnten, nachgingen."

Adorno befasste sich mit Arnold Schönbergs Zwölfttonmusik. Er wies die bis heute verbreitete Vorstellung ab, "dass Musik ein neutrales Naturphänomen sei, das von historischem Wandel nicht betroffen sei". Auch die Musik, so Adorno 1928, sei von der "Dialektik des historischen Prozesses" geprägt, darum könne es "keine universell gültige Kompositionsmethode" geben. Die Weimarer Bürger opponierten dagegen und forderten Harmonisches. Wenig später hörten sie die volltönenden Fanfarenklänge, Wagners Orchesterrausch und die kriegslustige Marschmusik der Nationalsozialisten. Den Frankfurter Denkern stand eine Zeit im Exil bevor. Die Herrschaft der Barbarei war entfesselt und schnell etabliert.

Auch in Amerika kritisierten die "Mitglieder der Frankfurter Schule" bald die "Werte Hollywoods" nicht weniger als Hitler. Die "Verachtung für die amerikanische Kultur" war in sich problematisch, die Sehnsucht nach Europa groß: "Ihr Heimweh war besonders intensiv, weil es ganz den Anschein hatte, als gäbe es keine Rückkehr in die Heimat." Die "Söhne der Aufklärung" sahen die Notwendigkeit einer beständigen Kritik, "einer Kritik, bei der die Vernunft eingesetzt wird, um die kategoriale Vernunft der Aufklärung zu kritisieren". Die weltbekannte Schrift Dialektik der Aufklärung nennt Jeffries die Abkehr vom Marxismus und den "Absturz in die Verzweiflung". Darüber mag man grübeln, vielleicht geht diese Pointe aber auch zu weit. Es war schließlich Max Horkheimer, der mit seinem Buch "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" an die Aufgabe des philosophischen Denkens erinnerte, das – ebenso wenig wie der Mensch – für die Erreichung beliebiger Zwecke instrumentiert, also als Mittel würdelos benutzt werden sollte. In dieser Schrift wird eine beispielhafte Verteidigung der Humanität vorgestellt, die insbesondere heute als Kritik der politischen Ökonomie und der kapitalistischen Wirtschaft gelesen und verstanden werden kann. Horkheimer zeigt zwar keinen geschichtlichen Prozess auf, aber er bekräftigt und begründet die Notwendigkeit des kritischen Einspruchs gegen vermeintliche Sachzwänge und Selbstverständlichkeiten. Mit den Worten von Stuart Jeffries gesagt, vermögen die "besten Texte der Frankfurter Denker" uns heute "noch viel zu sagen – nicht zuletzt über die Unmöglichkeit und die Notwendigkeit, anders zu denken". Dieses karge Resümee beschließt ein gedankenvolles, kluges, wenn auch gelegentlich etwas weitläufiges Buch über das Denken der Frankfurter Schule, das zur kritischen Reflexion über die Gesellschaft, die Ökonomie und die Bedingungen, auf denen die Ordnungen dieser Welt beruhen, anregt. Heute gängige akademische Erfolgskriterien wie "Drittmittel" oder aktuell kursierende Begriffe wie "Systemrelevanz" hätten die Frankfurter Denker entschlossen und souverän analysiert, reflektiert und kritisiert. 


von Thorsten Paprotny - 15. Dezember 2020
Grand Hotel Abgrund
Stuart Jeffries
Susanne Held (Übersetzung)
Grand Hotel Abgrund

Die Frankfurter Schule und ihre Zeit
Klett-Cotta 2020
Originalsprache: Englisch
509 Seiten, gebunden
EAN 978-3608964318