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Siegfried Lenz: Brot und Spiele

Bert Buchners letztes Rennen – Siegfried Lenz und sein illusionsloser Sportlerroman

Auch zur Neu- und Wiederbegegnung mit vertrauten Romanen und Erzählungen lädt die Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz ein. Der 2014 verstorbene Schriftsteller – vielfach gelesen, verehrt, geliebt und auch gelegentlich unterschätzt, ja verkannt – gehörte der Generation von Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser an. Vom Krieg gezeichnet war auch Lenz. Er erzählte leise, scheu, manchmal zaghaft. Der Erzähler besaß eine nahezu unendlich anmutende Geduld. Den Frieden liebte er, ohne davon predigen zu müssen. Seine Geschichten, ob masurisch oder hanseatisch koloriert, beherbergten Charaktere, denen Lenz förmlich ein literarisches Obdach schenkte. In seinen Geschichten konnten die Gestalten, aber auch der Leser zu Hause sein, verweilen, betrachten, zuschauen. 1959 publizierte Lenz einen besonderen Roman, eine Sportlergeschichte, die ganz anders ist als die "Deutschstunde" oder auch die späte Erzählung "Schweigeminute". Statt einer besonnenen, gelegentlich versonnenen Betrachtung beschreibt Siegfried Lenz den Läufer Bert Buchner, der selbst nicht mehr ganz genau weiß, vielleicht nie je gewusst hat, worum er kämpft – eine Geschichte eines Leichtathleten, der sich und auch dem Leser keine Atempause gönnt.

In manchen Deutschstunden werden Schüler dazu angeleitet, buchstäblich darauf getrimmt, Romane, Geschichten und Erzählungen wie eine Parabel zu lesen und zu verstehen. Aber nicht alles hat eine höhere, tiefere Bedeutung, manche Begebenheit wird einfach nur erzählt. Wir lernen, wie wir lesen können, lesen müssen, lesen sollen. Oder wir lernen es nicht. Mancher Leser sucht nach einer Pointe. Wovon möchte der Autor erzählen? Verbirgt sich eine Geschichte hinter der Geschichte? Eine Doppelbödigkeit? Die Suche danach kann quälend sein, sogar aussichtlos. Lenz' Roman birgt keine Pointe: Der Athlet Bert Buchner wird den Wettkampf verlieren. Der Erzähler, ein Sportreporter, berichtet von einem älteren Läufer. Von Anfang steht fest: "Bert wird nicht gewinnen." Muss er gewinnen? "Ja, er ist alt, zu alt für diesen Lauf, und er sieht schon jetzt wie der Verlierer aus, ehe der Start erfolgt ist. Aber wer wird mehr verlieren als diesen Lauf. Er spürt, daß sie ihn zum letzten Mal aufgestellt haben, er weiß, daß er im nächsten Jahr nicht einmal mehr Ersatzmann sein wird – soll er den bittersten Abschied bekommen …" Warum tritt er überhaupt noch an? Der Sportreporter sieht alle Läufer. Vor allem sieht er Bert, und "schmalbrüstig" steht er da vor dem "Zehntausendmeterlauf": "Bert hat ein Läuferherz, eine Läuferlunge, er hat viele Läufe gewonnen, ich habe in meiner Zeitung manchen Artikel über seine Siege geschrieben, doch nun sind sein Herz, seine Lunge zu alt …" Bert wartet, der Sportreporter auch. Dann beginnt der Lauf, den Bert Buchner nicht gewinnen kann. "Einer von ihnen wird mehr verlieren als diesen Lauf – wie schafft er es nur, wie kann er laufen mit der Gewißheit dieser Niederlage? Wahrhaftig, er hat sich an die Spitze des Feldes gesetzt, mit hämmerndem Schritt, die Arme hoch angewinkelt, so läuft Bert die Gegengerade hinab, energisch und hart, ohne den ganzen Fuß abrollen zu lassen: Was tut er nur? Ist das schon die Niederlage? Ja, sie kündigt sich bereits am Anfang an: Die Gewißheit der Niederlage jagt ihn in diesen Spurt, er will die drohenden Schritte seiner Gegner nicht hinter sich hören, ihren brennenden Atem nicht im Nacken spüren: Bert flieht vor ihnen, um vor sich selbst zu fliehen …" Ein wenig pathetisch schreibt der sonst so behutsam formulierende Siegfried Lenz: "Nur der letzte Lauf zählt." 

Ins Bewusstsein treten Erinnerungen an den Krieg, der "schon vorbei war" und doch nicht zu vergehen schien. Wahrnehmungen des Sports überhaupt werden artikuliert, politisch imprägniert, etwa die Meinung eines empörten Zahnarztes, der zwar einmal den großen Rudolf Harbig gesehen habe, aber doch nur eine "abendländische Nulpe" sei. So spricht der lästige Dentist Böteführ, der behauptete, dass "»nur wir Deutsche den abendländischen Sinn des Sports erfaßt«" hätten, aber selbst "nie aktiv gewesen" sei. Solche Gestalten, anstrengende Schwätzer, räsonieren schlau auf der Tribüne. Bert Buchner aber, eher verschwiegen, kannte keine vaterländischen Litaneien, er war "Mitglied des Hafensportvereins". Er lief einfach, bei Wind und Wetter, und wider Erwarten, im letzten Lauf ist er schneller, schneller als alle anderen: "Welch eine Zwischenzeit! Keiner von Berts Läufen hat je so schnell begonnen, noch nie hat er solch eine Zwischenzeit erreicht, es ist ein Rekord aus Verzweiflung, ja, doch die Zwischenzeit besagt nichts, denn nur das Ende des Laufs wird entscheiden. Oder wird das Ende des Laufs einen neuen Rekord von ihm bringen? Es ist möglich, alles ist möglich in diesem Feld; die meisten Rekorde wurden unerwartet gelaufen, unter erbarmungsloser Sonne: Gegen alle Erwartung, überraschend selbst für die Zeitnehmer, wurden die meisten Rekorde erzielt – selten nach großen Vorbereitungen, Ankündigungen und mit bestellten Schrittmachern." 

Von traurigen Gestalten erzählt Siegfried Lenz, auf der Rennbahn, im Hafenviertel, dem "Ventil der Stadt", die auf ihre je eigene Weise auch für "Brot und Spiele" sorgen oder sorgen müssen, weil sie überleben, also weiterleben möchten, zumindest noch ein wenig. Auch Bert Buchner ist im Hafenviertel unterwegs. Manchmal wirkt er wie abwesend. Er geht ins Kasino. Der Sportreporter begleitet ihn, freundschaftlich, auch hilflos: "Er sah nicht wie ein Spieler aus." Aber auch der ist ein Spieler, der nicht danach aussieht und trotzdem von Glücksspielen, also Unglücksspielen nicht lassen kann. Beim Roulette setzte er "jedesmal auf Zero und verlor, vierzehnmal hintereinander": "Nein, Bert machte nicht den Eindruck eines Spielers. Später jedoch, als mehrere Herren ihn begrüßten, gedämpft und höflich begrüßten – später stellte sich heraus, daß Bert ein guter Kunde im Kasino war, Stammkunde. Stammkunden wurden hier persönlich begrüßt, wie überall, wo Kundendienst etwas gilt. Und nachdem Bert alles auf Zero verloren hatte, konnte er auf einmal wieder mit mir sprechen; allerdings war ich nicht in der Lage, ihm zu helfen, nicht einmal mit zwanzig Mark: Ich hatte nicht genau gesehen, wieviel er bei seinem Spielchen verlor, aber es wird die Hälfte eines Monatsgehalts gewesen sein, sicherlich …" Auch sein letztes Rennen in der Arena wird Bert verlieren. Ja, er gibt sein Bestes, geht in Führung, läuft, als liefe er um sein Leben. Siegfried Lenz lässt – behutsam erzählend wie kein zweiter Autor deutscher Sprache in seiner Generation – Fragen offen, Manchmal verzichtet er sogar darauf, die Fragen zu stellen. Andere reden genug oder mehr als genug. Lenz beschreibt nur den Sportler Bert, der nicht als Sieger ins Ziel einläuft und jeden Halt verliert. Der Sportreporter kann den Athleten mit Mitgefühl beschreiben, helfen kann er ihm nicht.

Auf mehr als zweihundertdreißig Seiten verzichtet Siegfried Lenz auf jeden Absatz. Ob das nötig gewesen wäre? Die Lektüre erleichtert dies nicht. Lenz möchte so auch die Dynamik der Verzweiflung beschreiben, die Rastlosigkeit des traurigen Bert und die Ohnmacht des Reporters, der alles mitansieht und notiert. Im Kommentarteil des Buches werden zeitgenössische Rezensionen aufgeführt. Hans Hellmut Kirst, Verfasser der "08/15"-Reihe, einer Sammlung von biederen Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg, etwa lobte Lenz' Roman, Marcel Reich-Ranicki äußerte sich – einer von wenigen – wohlwollend gegenüber dem Autor, aber skeptisch mit Blick auf den Roman, der den Leser atem- und auch etwas ratlos zurücklässt. Wir sehen auch hier alle Stärken des großen Erzählers Lenz, seine liebevollen, sensiblen Charakterisierungen, seine Menschenfreundlichkeit und seine sorgfältigen Beobachtungen.

Der kenntnisreich kommentierte Band enthält einen kleinen Nachtrag, in dem der Schriftsteller seine Beweggründe erläutert, warum er diese Geschichte gern erzählen wollte. Lenz spricht von seinem Bedürfnis, sowohl die "»Tribünengesellschaft«" der Sportarenen und ihre Emotionen, aber auch die "Athleten", die er die "Wochenend-Könige" nennt, ein wenig oder ein wenig besser zu verstehen. Neben der eigensinnigen Komposition des Romans hat der Autor möglicherweise auch zu viel gewollt – er versucht etwa, psychologische Momente wahrzunehmen und zu verstehen, deuten und verschiedene Zeitebenen fließend miteinander zu verbinden. So gehört die unkonventionelle Sportlergeschichte "Brot und Spiele" nicht zu den großen Romanen des großartigen deutschen Schriftstellers Siegfried Lenz. 


von Thorsten Paprotny - 01. Januar 2020
Brot und Spiele
Siegfried Lenz
Günter Berg (Hrsg.)
Heinrich Detering (Hrsg.)
Astrid Roffmann (Hrsg.)
Brot und Spiele

Hoffmann und Campe 2019
344 Seiten, gebunden
EAN 978-3455405958