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Ein postheroisches Heldenleben? – Monika Marons Ritterroman

Unter Intellektuellen wird mitunter gefällig, versiert und ironisch über das postheroische Zeitalter räsoniert. Aber so wenig wie der traurige, vereinsamte Altphilologe Friedrich Nietzsche – trotz seiner wortgewaltigen "unzeitgemäßen Betrachtungen" – im 19. Jahrhundert zu einem Helden taugte, um die saturierte Philosophie, die pompöse Kunst und das ganz große Welttheater machtvoll zu erneuern, so wenig wirkt Monika Marons neuer Protagonist, mit dem sprechenden Namen Artur Lanz versehen, wie ein neuer König Artus oder ein Lancelot der Gegenwart. Vor allem wird in diesem Roman über das Posthistorische gesprochen. Der Begriff taucht auf, bleibt präsent, neben sorgfältig konturierten wie kolorierten Gestalten, mit denen die bekannte Schriftstellerin Phänomene der Zeit spiegelt. Trotzdem wirkt die schneidig angelegte Erzählung mitunter eher wie ein Thesenroman.

Charlotte Winter, Lektorin außer Dienst, etwa 75 Jahre alt, begegnet mitten in Berlin dem einsamen Artur Lanz, der vom Alter her ihr Sohn sein könnte und "sein Leben in diesem Großstadtstaub zu vergeuden" scheint, inwendig leidend, resigniert, grübelnd und melancholisch. Welches "Drama" also mag in der "Männerseele von Artur Lanz" toben? Der Name, der von Anfang frei von jedem Geheimnis ist, wird erläutert: "Wissen Sie, warum ich Artur heiße? Weil meine heldenverliebte Mutter mit der Verbindung von Artur und Lanz die Geschichte vom Heiligen Gral beschwören wollte. König Artus und Lancelot in ihrem einzigen Sohn vereint, davon muss sie geträumt haben." Heute jedoch scheint niemand mehr von Rittern und dem Ethos der Ritterlichkeit zu träumen. Oder? Artur Lanz sagt, er sei "eher der Typ fürs heldenhafte Diskutieren" gewesen, der "ausgleichende Vermittler", schließlich auch der "Klassensprecher". In diesem Roman wird – wenig überraschend – aus dem schüchtern wie zaudernd wirkenden Artur ein Streiter für die Meinungsfreiheit. Ein Freund namens Gerald von ihm empört sich über die Klimakatastrophe, hält diese für eine Art Glaubenssache und zeigt sich ungläubig. Er spricht vom "Grünen Reich" und distanziert sich auch nicht davon, als die "Rechte Partei" diese Wendung übernimmt. Dass besagter Gerald sich in Rage redet, wird nicht bestritten, auch nicht, dass die Begriffsfigur "Grünes Reich" aus England stammt. Aber die Wortgefechte oder auch die Situationen, in denen diese entstehen, bilden die dramatischen Höhepunkte des Romans – kluge Menschen disputieren, agitieren, entzweien und demaskieren sich. Nebenher treten noch akademische Gestalten auf, etwa eine Soziologin namens Penelope, eine Feministin, die sich "durch einen exzentrischen Kleidungsstil unübersehbar in Szene gesetzt hatte". Sie war immer zur Stelle, wenn eine "fortschrittsverheißende Stimme" in universitären Gremien gebraucht wurde. Penelope äußert sich wenig später in einer Debatte über den Islam, über Muslime in Deutschland und die Migrationsbewegungen überhaupt. Monika Maron schildert die temperamentvoll auftretende Dame farbig, aber schablonenhaft und einseitig, ja mitleidlos. Leicht können wir uns Persönlichkeiten wie diese vorstellen, ihre Ansichten und Meinungen, auch ihr Charisma.

Lanz indessen wird einfühlsamer geschildert, er zweifelt, "ob er wirklich einen Plan für sein Leben gehabt hätte". Statt Künstler zu werden, hatte er Physik studiert, heiratete und ließ sich wieder scheiden: "Er hat geraucht, trank gern Wein, sonst keine auffälligen Leidenschaften. Wäre er mein Nachbar gewesen, hätte ich ihn sicher als angenehm empfunden." Ein moderner Lancelot – oder ein braver Bürger? Ein bisschen sehr bieder vielleicht, möglicherweise aber jemand, der über sich hinauswachsen könnte. Charlotte nimmt wieder Gespräche mit Zeitgenossen auf, unterhält sich mit einer Freundin und sagt, "eine Gesellschaft, die von sich behauptet, postheroisch zu sein, will eben untergehen". Gekonnt flicht Monika Maron diese beiläufigen Betrachtungen ein, erwähnt später noch Michel Houellebecq und sogar die schwerblütigen Untergangsfantasien von Oswald Spengler.

Das verborgene Herzstück der Geschichte, sehr berührend vorgestellt, erzählt von Arturs Liebe zu Jolanta, fernab von allen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprophetien. Jolanta, die "Praktikantin in unserem Institut", wie Artur berichtet, stammte aus Lodz: "Dass ich mich in sie verliebt hatte, merkte ich, als sie eine Woche nicht zur Arbeit kam, weil sie krank war. Die Tage waren mir verdorben." Jolanta, liebevoll Jola genannt, wohnte in Berlin-Wedding, und weckte die Leidenschaft des vormals so spröden Artur Lanz: "Unsere Nächte waren wie verzweifelte Versuche, endgültig und für immer eins zu werden. … Ich habe nie so viel gelogen wie in dieser Zeit."  Seine Frau schwieg dazu: "Wenn man lange verheiratet ist, verliebt man sich schon mal. Aber mit Jola war es nicht nur das. Es war das Einzigartige, das mir eben nur einmal im Leben passiert ist." Die gläubige Katholikin sorgte sich um das Ende von Arturs Ehe, und er entschied sich für die Fortsetzung des alten Lebens – auch aufgrund der "Stimmen einer ererbten Ritterlichkeit, die ihn zurückriefen, als er in Gedanken schon seine Koffer packte". Jolanta ging zurück nach Polen, ohne Abschiedsgruß, denn sie hat "nicht gewollt, dass er sie am Bahnhof verabschiedet". Die Scheidung erfolgt trotzdem, Jahre später, weil sich das Ehepaar Lanz voneinander entfremdet hatte. Schade, dass sich Monika Maron nicht ganz dieser Liebesgeschichte und dem zugehörigen Beziehungsgeflecht gewidmet hat. Sie kehrt zurück zu den Reflexionen über die postheroische Gesellschaft, in der es keine Helden und keine Ritter mehr geben würde. Die Gesellschaft heute sei, so eine Romanfigur namens Adam, mit sich selbst beschäftigt: "Vor allem darf sie keine Feinde haben, aber ob du einen Feind hast, entscheidest nicht du, sondern dein Feind. … Postheroismus muss man sich leisten können."

Arturs Kollege Gerald wittert überall die "drohende Diktatur" und erregt sich zunehmend. Verschwörungstheorien greifen um sich. Über Mut wird nachgedacht. Charlottes Freundin denkt, Mut sei eine Art Muskel: "Wenn du ihn nicht benutzt, schrumpft er. Wenn Mut lange nicht gebraucht wird, kommt er abhanden." Der freimütige Gerald entdeckt in sich den Kämpfer für eine höchstwahrscheinlich falsche Meinung. Er philosophiert über den Klimawandel und das "Grüne Reich". Ist Gerald etwa ein Rechtspopulist? Der politischen Rede und den menschlichen Verwerfungen im Institut widmet sich die Autorin dann detailliert, schildert die Abfolge der Geschehnisse, anschaulich und präzise. Sie seziert die neue deutsche Debattenkultur. Gerald sagt, er sei nicht allein Mitarbeiter eines Instituts, dem "Rufschädigung" vorgeworfen werde, sondern "auch ein Bürger, und als Bürger habe er das Recht, seine Meinung immer und überall frei zu äußern". Dem stimmt auch der Kollege Navid zu, der ebenfalls ungeschmeidig unpopuläre Ansichten äußert, wider den Mainstream. Die Krise im Institut spitzt sich zu. Artur Lanz, von einem "Weichei" verwandelt in einen Held der postheroischen Gesellschaft, steht seinem Freund Gerald tapfer zur Seite und beruft sich auf Voltaire: "Das habe ich vorher extra auswendig gelernt, sagte Artur, weil ich ja in der Klimasache nicht deiner Meinung bin, das habe ich auch gesagt, aber dass ich alles dafür geben würde, dass du deine Meinung sagen darfst." Die Freunde verlassen das Institut und gehen als Forscher in die Schweiz. Dort werden sie willkommen geheißen. Immer wieder äußern sich einige Romangestalten von Monika Maron grimmig über gesellschaftliche Strömungen und die politische Kultur dieser Zeit, pointiert zwar, doch thesenartig. Niemand muss einer säkularen Religion der "Political Correctness" huldigen. Doch deswegen ist ein Mensch, der anderes bekennt, weder ein postmoderner Ritter noch ein glorioser Freiheitskämpfer. Vielleicht fällt es nicht leicht, ganz normale Menschen von heute – wozu auch noch immer Akademiker zählen – menschenfreundlich, gütig und mitleidvoll zu beschreiben. Ob sie oder wir alle es verdient hätten, streng beurteilt zu werden, weiß ich nicht. Thomas Mann hätte diese Zeit sorgfältig und trotz allem humorvoll beschreiben können. Auch Siegfried Lenz zeichnete seine Charaktere farbig und zugleich mit Sympathie. Monika Maron erzählt souverän und beherzt, aber nicht immer herzlich und selten gelassen. Unbestreitbar gehört sie zu den wichtigsten, zugleich zu den provokativsten Autorinnen der Gegenwart. Dieses Buch lädt ein, über viele Signaturen unserer Zeit nachzudenken. Ich würde Artur Lanz in der Schweiz kein Heldenleben wünschen, aber ein unverhofftes Wiedersehen mit Jolanta. So könnten sich die beiden jener Zweisamkeit erfreuen, die auf dieser Welt noch immer nicht ganz unmöglich ist – auch in Zeiten wie diesen.


von Thorsten Paprotny - 01. November 2020
Artur Lanz
Monika Maron
Artur Lanz

Fischer 2020
224 Seiten, gebunden
EAN 978-3103974058