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Aram Mattioli: Verlorene Welten

US-Geschichte aus der Sicht der »First Peoples«

"Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich kaum in Worte fassen", schreibt der renommierte Schweizer Professor über die Geschichte der Indianer Nordamerikas seit dem Auftreten des weißen Mannes in ihrem Land. 1492 lebten schätzungsweise fünf bis zehn Millionen Native Americans in den riesigen Gebieten nördlich des Rio Grande. 1900 waren noch 237'000 First Peoples auf dem Gebiet der USA übrig. Der globale Imperialismus hatte in seinem weltweiten Krieg gegen "tribale Lebensformen" einen weiteren Sieg errungen. Denn Ende des 19. Jahrhunderts war der Genozid an einer Bevölkerung eines ganzen Landes keineswegs eine amerikanische Besonderheit. Der Wahnsinn hatte System, wenn auch nicht unbedingt eine zielgerichtete Intention. Diese macht nämlich begrifflich den Unterschied zwischen Geno- und Ethnozid. Aber angesichts der Daten und Quellen, die Mattioli in seinem äußerst lesenswerten Buch präsentiert, sind das nur Haarspaltereien.

Ethnozid oder Genozid?

Besonders bedrückend ist aber nicht nur die Ausrottung der Menschen, sondern zudem auch noch der Versuch, ihre Kultur zu vernichten. Wie Mattioli in seiner Darstellung beeindruckend vor Augen führt, sind nämlich nicht allein Vertreibungen in die Reservate nach den sogenannten Indianerkriegen die Spitze des Eisbergs, sondern auch die Entführung einer ganzen Generation von Indigenen, um sich in amerikanischen Boarding Schools zu "zivilisieren" und ihre Kultur komplett auszulöschen. Nachdem der weiße Mann den Indigenas nämlich die Lebensgrundlage (etwa die 1934 auf ganze 34 reduzierten 30 Millionen Büffel der Plains) entzogen hatte, pferchte er die anpassungsunwilligen Indigenas in immer kleiner werdende Reservate. Dort wurden sie aufgrund fehlender Felder oder Jagdgründe in die Abhängigkeit des Staates gedrängt und zu dessen Mündel. Aber das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass es trotz des beinahen Völkermordes dennoch nicht gelang, die amerikanischen Ureinwohner auszurotten und dass sie ihren Widerstand auch heute fortsetzen. Dafür bringt der Autor einige Beispiele im letzten Teil der vorliegenden Monographie, die zur Pflichtlektüre nicht nur an amerikanischen Schulen gemacht werden sollte. Das vorliegende Buch zeigt aber vor allem auch, wie sich die sogenannten Indianer immer wieder gegen das ihnen bestimmte Los auflehnten und dass es nicht von vorherein so klar war, dass die Invasoren gewinnen. Denn der Widerstand der unterschiedlichen Nationen war teilweise sogar sehr massiv und auch von großen Siegen begleitet. Vor allem aber macht die vorliegende Darstellung auch Mut, nämlich dass das geplante Projekt der Unterwerfung durch totale Assimilation eben nicht gelang und auch heute wieder Aniyvwiya (cherokee für: "erste Menschen, erstes Volk") ihre eigene Kultur wiederentdecken, weitertragen und auch leben.

Kampf um einen Kontinent

Mattioli beschreibt nicht nur die Indigenas, sondern auch den Kontext des Nation- und Empire-Building-Prozesses der USA, der keineswegs von Anfang an eine solche Übermacht hatte. Auf dem amerikanischen Kontinent gab es nämlich durchwegs unterschiedliche Player, die das Schicksal der Indigenas beeinflussten. So waren es neben Franzosen und Briten auch die Spanier in Kalifornien, Texas, Arizona etc. die Ansprüche auf Land von Menschen stellten, das ihnen nicht gehörte. Die 13 Staaten, als die sich die USA nach dem Unabhängigkeitskrieg von England konstituiert hatte, befanden sich nur an der Ostküste und der Kontinent selbst war noch weitgehend unerschlossen. Aber "God’s Own Country" schaffte es im 19. Jahrhundert, sich einen ganzen Kontinent und mehr als 500 indianische Nationen in einem beispiellosen Siegeszug einzuverleiben. "Im Gegensatz zum streng hierarchischen British Empire, das sich nach dem Pontiac-Aufstand um ein gutes Einvernehmen mit den American Indians bemüht hatte, waren die USA zwar demokratisch, aber ethnisch exklusiv." 

Dekonstruktion des Wild-West-Mythos und mehr

Aram Mattioli zeigt in einem atemberaubenden Narrativ, wie sich dieselbe junge, scheinbar so demokratische Gesellschaft ihre Welt zurechtzimmerte und mit Hilfe von schwarzen Sklaven ein Imperium aufbaute, das wir heute als die USA kennen. Mattioli erzählt die Geschichte der Indigenas Nordamerikas auf den Quellen des neuesten Forschungsstands beruhend und zeigt zudem wie sehr Rassismus und kultureller Eurozentrismus die amerikanische Republik in ihren Anfangstagen beeinflusst hatte. Das Buch liest sich spannender als ein Krimi und bedenklicherweise ist zudem noch jedes Wort darin wahr. Wer dieses Buch liest, wird auch einen Gutteil der aktuellen amerikanischen Politik besser verstehen. Denn das Selbstverständnis der USA ist nach wie vor dasselbe: God’s Own Country.

Kurzum: Eine der besten Darstellungen zum Thema, die man finden kann.


von Juergen Weber - 03. April 2021
Verlorene Welten
Aram Mattioli
Verlorene Welten

Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910
Klett-Cotta 2020
464 Seiten, broschiert
EAN 978-3608963250