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Samuel Taylor Coleridge / In Xanadu

Von der Kritik nicht verschont, von Iron Maiden vertont

Samuel Taylor Coleridge war vielleicht nicht so bekannt wie Shelley, Keats oder Byron. Gemeinsam mit ihnen, Blake, Wordsworth und Southey zählt er dennoch zu den großen englischen Romantikern. Zum 250. Geburtstag erscheint eine neue Biografie. 

 

Alone alone, all, all alone,
Alone on a wide wide sea!
And never a saint took pity on
My soul in agony

 

Nie wurde Einsamkeit eindrucksvoller beschrieben als in The Rime of the Ancient Mariner. Die Ballade von Samuel Taylor Coleridge, eines der längsten Gedichte der englischen Romantik, beschreibt in sieben Teilen die unter einem Unstern stehende Reise eines Schiffs. Der Kahn geht unter, alle sterben – bis auf den Kapitän. Dieser weiß, dass er an allem schuld ist: Er hat einen Albatross, der dem Schiff gefolgt war, abgeschossen. Einfach so, aus Übermut. Der Tod des treuen Tiers bleibt nicht ungesühnt. 

Doch es gibt auch Erlösung. Erst nach langem Leiden, Depression und Selbstzweifeln kommt der göttliche Wink, der den Seemann aus der Misere führt. Trüb ins Wasser starrend bleibt sein Blick an ein paar Schlangen haften, vor denen er sich bislang stets geekelt hatte. Nun aber erkennt er:

 

Jenseits von Schatten schaute ich
Den Wasserschlangen zu:
Sie schwammen strahlend weiß und dicht,
Sie bäumten sich, und Elfenlicht
Fiel schuppig ab im Nu.

 

So lautet die deutsche Übertragung. Sie stammt von Florian Bissig, einem Schweizer Anglisten und Übersetzer. Zuvor hatten sich bereits vier weitere Wortästheten an dem Monumentalepos versucht. Der erste war Ferdinand Freiligrath 1877. Von allen Versuchen kommt Bissigs Version dem Originaltext am nächsten – nicht nur, was den Takt betrifft: Selten musste ein Übersetzer von Versen wirklich keinerlei Verrenkungen vornehmen, damit das Metrum stimmt.

Wie gut, dass Bissig sich auch der anderen Gedichte Coleridges angenommen und sie allesamt sauber ins Deutsche überführt hat. In Xanadu heißt der vom Schweizer Verlag Dörlemann gerade veröffentlichte Band. Im selben Haus hat Bissig auch eine Biografie über Coleridge veröffentlicht. Sie erscheint pünktlich zum runden Dichterjubiläum. Bemerkenswert: Bissig kommt nahezu komplett ohne Sekundärliteratur aus. Einzige Ausnahme ist eine vier Jahre nach Coleridges Tod von dessen Arzt und Freund James Gillman verfasste Vita. Merkwürdigerweise taucht diese im englischen Wikipediaeintrag zu Coleridge nicht unter den vier Dutzend Titeln zur weiteren Lektüre auf. 

Kurz noch einmal zurück zum Ancient Mariner. Coleridges Erkenntnis, dass jeder natürlichen Kreatur, mag sie unbewusst als noch so hässlich empfunden werden, ein gewisses Maß an Schönheit innewohnt (bei Coleridge liest es sich wie folgt: "O frohe Lebewesen! Ach/In Schönheit unsagbar:/ Ein Quell der Liebe schoss aus mir."), entspricht nicht unbedingt den Lehren der Aufklärung, obwohl sich der Dichter ihr verpflichtet wähnte. Descartes hatte bei den Tieren allenfalls den Nutzen gesehen, Kant sie gar als Sachen betrachtet. Coleridges Humanismus macht vor keinem Lebewesen halt: "Auch das Geringste an der gottgemachten Natur ist wertzuschätzen", bringt Bissig den Coleridge'schen Kosmos auf den Punkt: "Das ist ein christliches Moralnarrativ oder, wenn man will, auch eine Öko-Parabel."

Der Ancient Mariner hat Generationen von Literaturkritikern überzeugt, Philosophen für sich eingenommen und Leser verzückt. Unter den Coleridge-Fans ist auch die Band Iron Maiden, sonst eher für laute Töne bekannt. Auf ihrem 1984 erschienenen Album Powerslave nahmen die Metallisten eine 14-minütige Interpretation der so traurigen wie hoffnungsvollen Vorlage auf. Eine optische Version kann ebenfalls bestaunt werden: Im Hafen von Watchet, in der Grafschaft Somerset, grüßt am Ufer des Bristol Channel eine Bronzestatue des Ancient Mariner, stilecht mit totenschlaffem Albatros.

In seiner Biografie arbeitet Bissig den Autor hinter dem Ancient Mariner sehr fein heraus. Als Coleridge, der bis dahin die meiste Zeit in London verbracht hat, von der Großstadt aufs Land zieht, muss er sich auch mit den Kehrseiten der Natur rund um sein idyllisches Cottage befassen. Eine Mäuseplage macht ihm zu schaffen. Coleridge, ganz Romantiker, löst das Problem naturgerecht. Er ignoriert die Mäuse: "Es verdrießt mich, eine Falle zu stellen. Es wäre nicht recht." 

Bissig geht es vor allem darum, den weltanschaulichen Coleridge darzustellen: seine Radikalität (die etliche Bewunderer, aber noch mehr Ablehnung in etablierten Kreisen nach sich zog), seine Begeisterung für die Französische Revolution (die rasch abkühlte und zum Kompromiss "Ideale ja, Exzesse nein" schmolz), seine Abkehr von einem unitaristisch-ursprünglichen Christentum (hin zur lange auch von ihm verhassten institutionellen Church of England), seine Kritik an den konservativen Regierungen unter reaktionären Premierministern, allen voran der "keine Gefühle gegenüber dem Menschen oder der Natur" zeigende William Pitt (die immer gemäßigter wurde, bis Coleridge am Ende sogar, ganz anders etwa als der linksaußen gebliebene Shelley, Verständnis für das Peterloo Massacre aufbringt, bei dem in Manchester 15 friedliche Demonstranten erschossen wurden). 

Coleridge, am 21. Oktober 1772 in Ottery St. Mary in Devon geboren, sah sich als Internationalist und orientierte sich neben dem revolutionären Frankreich vor allem an Deutschland und Italien. Er übersetzte Schiller, machte seine Landsleute daheim mit dem deutschen Idealismus bekannt, las Lessing, korrespondierte mit Schelling und Tieck. Coleridge lernte sogar Deutsch, um die von ihm bewunderten Philosophen und Dichter im Original lesen zu können. Eine Zeitlang studierte er in Göttingen. 

An Italien interessierten Coleridge alle Facetten seiner reichhaltigen Kultur: von der bildenden Kunst bis zur Architektur, von den antiken Wurzeln bis zur Renaissance. Und natürlich die Dichtung: Von Dantes Göttlicher Komödie fließt in seine Werke ebenso viel ein wie von Bocaccios Decamerone oder Tassos Das befreite Jerusalem. Coleridge übersetzte Petrarcas Liebeslyrik, und Pico della Mirandolas Traktat über die Würde des Menschen hatte ihn bereits als Schüler beschäftigt. 

Trotz seiner Wandlung vom Radikalen zum Reformer blieb Coleridge in der Heimat ein Außenseiter. Große Teile des zeitgenössischen Literaturbetriebs – Anerkennung gab es nur durch die Kollegen Southey und Worsworth – verschmähte ihn; Ruhm und Ehre folgten erst posthum. Seine Opiumsucht, die Coleridge nie verheimlichte und von der er trotz größter Anstrengungen nicht loskam, tat ein übriges. Und doch gab es auch Verehrer, wenn auch nur ein harter Kern. Zu ihnen zählten die Epigonen Keats, Shelley und Byron, der Kritiker und Essayist Charles Lamb, der Aufklärer und später einer der US-Gründerväter Tom Paine oder auch Thomas Wedgwood. Der Fotografiepionier förderte den chronisch klammen Coleridge nach Kräften und staffierte ihn mit einer Lebensrente aus. 

Coleridge starb, 61-jährig, in Highgate im Londoner Norden. Geblieben ist seine Sprachkraft, die Mitmenschen wie Nachwelt, so sein Biograf Bissig, bis heute "verblüfft und verzaubert".


von Ralf Höller - 26. Oktober 2022
Samuel Taylor Coleridge / In Xanadu
Florian Bissig
Samuel Taylor Coleridge / In Xanadu

Eine Biografie / Gedichte
Dörlemann 2022
Originalsprache: Englisch
240 / 300 Seiten, gebunden