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Juli Zeh: Neujahr

Seelenfinsternisse

Angst- und Panikstörungen gehören zu den Signaturen der Moderne. Von den subtilen Mechanismen der Verdrängung hat die psychologisch kundige Schriftstellerin Juli Zeh, 1974 geboren, bereits mehrfach erzählt, von Menschen also, die hinter dem nach außen gezeigten Fassadenglück sich selbst entfremdet sind. Sie leben dahin, leben fort, seelisch angefochten, so fahrig wie angestrengt. Die Autorin, international renommiert, zählt zu den bekanntesten Stimmen der Gegenwartsliteratur. Sie berichtet in ihrem neuen Roman mit besonderer Dynamik, ja hastig, nervös und rasant vom Getriebensein ihrer Charaktere. Zeh stellt Erkundungen im weiten Land der Seele an.

Die kanarische Sonneninsel Lanzarote mag für erholsame Reisen taugen, ein Ort der Sehnsucht und zugleich auch eine Stätte der Alpträume sein. Henning und Theresa, ein Paar mit zwei Kindern, ordentlich verheiratet, inwendig ermattet, zermürbt und entzweit, verbringt die Winterferien im Süden. Zuhause haben sie sich arrangiert, auch der Kinder wegen, die in diesem Roman wenig beachtet werden und eher schemenhaft auftreten. Thomas Mann hätte die Ehe der beiden vielleicht als "strenges Glück" bezeichnet.

Juli Zeh erzählt vor allem Hennings Geschichte. Die Ehefrau bleibt eine Nebenfigur. Henning denkt in Strukturen und lebt in Gewohnheiten. Er ist fixiert, erstarrt, obzwar Büchermensch, also Mitarbeiter in einem Verlag, pragmatisch und gewohnheitsorientiert. Die Ehe "funktioniert". Kann man Traurigeres über eine Partnerschaft sagen? "Schließlich kommt es im Leben immer und überall darauf an, ob etwas funktioniert, und solange alles funktioniert, muss man eigentlich auch nichts machen. Theresa und er funktionieren als Paar ziemlich gut. Die Arbeitsteilung in ihrer Familie funktioniert einigermaßen. Henning funktioniert mit den Kindern, so gut er kann, und im Job ausreichend, wenn auch nicht mehr so wie früher." Der Leser versteht schnell. Es hätte gar nicht so vieler Worte bedurft: Ein Paar, das nur noch funktioniert, hat sich längst voneinander verabschiedet. Sie gehen getrennte Wege zu zweit, leben zusammen, aber nicht miteinander. Nur stabile, eingeübte Abläufe dauern fort. Das Leben ist zu einer "Kulisse" geworden: "Manchmal schaut er Theresa an und weiß, dass er sie liebt, ohne irgendetwas zu empfinden." Was mag Juli Zeh damit sagen wollen? Schlicht gedacht: Wer nichts mehr empfindet, hat zu lieben doch aufgehört. Die Ehe, emotional entkernt, besteht weiter. Viel kälter als in der Einsamkeit zu zweit kann es auf dieser Welt nicht werden.

Henning möchte unbedingt nach Lanzarote reisen. Er hatte die Insel als Kind mit seinen Eltern und seiner Schwester besucht. Auch von den Reiseplänen ist er wie besessen. Henning träumt: "Vor den Haupthäusern kunstvoll verwilderte Gärten, hohe Palmen, skurrile Kakteen, üppige Bougainvilleen. In den Einfahrten meistens Mietwagen. Verschiedene Terrassen in verschiedenen Himmelsrichtungen. Ringsum Panorama, Aussicht, Horizont. Vulkanberge, Himmel, Meer. Im Vorbeifahren betastet Henning diese Anwesen mit Blicken. Er spürt, wie es sich anfühlen muss, dort zu leben. Das Glück, der Triumph, die Großartigkeit." An Theresas Teilhabe und Mitwirkung ist er nicht interessiert. Er bucht. Warum reisen sie überhaupt? Eine verborgene Anziehung übt die traumatische Erfahrung der Kindheit aus, von der ein jeder Leser später einiges, vielleicht sogar mehr als nötig erfahren wird. Zunächst bietet Juli Zeh eine Chronik der Alltäglichkeiten, in konventionelle Worte verpackt: "Der Flug war günstig, allerdings findet Henning es unverschämt, dass die Kinder fast den vollen Preis zahlen. Er weiß nicht, warum er immer so genau darauf achtet, was alles kostet. Sie nagen nicht gerade am Hungertuch. ... Vielleicht ist Geld das letzte verbliebene Ordnungssystem auf der Welt." Über unsensible, psychische verunsicherte und verstörte Menschen schreibt die Autorin hellsichtig. Wir sehen Henning zu und lernen seine Okkupationen kennen, seinen Eifer und seine Hilflosigkeit. Er hegt konventionelle Absichten: "Erster Erster, ein Tag wie geschaffen für eine Herausforderung. Er wird dem neuen Jahr gleich mal zeigen, was eine Harke ist." Dass Zeitgenossen so denken wie Henning, ist eine nicht auszuschließende Möglichkeit, ebenso wenig, dass strebsame Zeitgenossen an einer Angststörung mit Panikattacken leiden. Der Urlaub fällt stumpf und öde aus. Henning sieht "tanzende Pärchen", darunter Theresa, die – natürlich – mit einem charmanten Franzosen tanzt: "Der Franzose hielt Theresa fest, als wollte er sie nie wieder loslassen." So denkt Henning, aber Theresa hat nur getanzt. Der paradoxerweise lieblos liebende Ehemann ist eifersüchtig. Erinnerungen stellen sich ein, an die eigenen Eltern, an die kleine Schwester Luna, der er so sehr zugetan war. Der Vater trank, nahm Drogen, lallte oft und verschwand: "Henning und Luna lebten mit gesenkten Köpfen." Dieser Satz enthält die treffendste Beschreibung eines seelischen Zustandes in dem ganzen Roman.

Henning erinnert sich, steigert seine Wut, fährt Fahrrad und gerät in einen Strudel von Aggression und Verzweiflung. Er fantasiert, über Theresa und den Tänzer – und über das Haus, das er noch aus der Kindheit kennt. Auch bildet er sich ein, eine SMS erhalten zu haben, dass Theresa sich trennen möchte von ihm – und die Geschichte in der Geschichte beginnt, die Reise in die verborgenen Abgründe von Hennings Ich. Lanzarote lernte er mit Luna und seinen Eltern kennen, vor langer Zeit. Die Welt von gestern wird sichtbar, mit kindlich kolorierter Wahrnehmung. Hatte die Mutter eine Affäre? Die Eltern schreien einander an: "Am nächsten Morgen sind Mama und Papa weg." Zwei Kleinkinder werden zu Verschollenen. Sie wissen nicht, was geschehen ist. Henning beschreibt die traumatischen Erfahrungen eingehend, auch sehr eindringlich. Er muss auf die kleine Schwester aufpassen. Was in den Kindern vor sich gehen mag, stellt die Autorin vor, mit hoher Intensität. Dennoch mag sich der eine oder die andere fragen: Muss ich das so wirklich genau wissen?

Nach der Urlaubsreise tritt für Henning eine Klärung ein. Er hat sein Trauma erkannt. Führt dies zu einem Neuanfang? Zu einem Ende der Panikstörungen? Wovon Hennings Mutter nie hatte berichtet wollen, das schildert sie nun detailliert. Henning hört von seinem Vater Werner, der "wirklich viel gekifft" habe. Den "halben Tag habe er zugedröhnt" an der Mauer gestanden, und "im Bett wenig bis gar kein Interesse gezeigt". Dann sei der Fremde, also Noah, aufgetaucht. Der Vater eilte fort, die Mutter folgte ihm – und ein schwerer Unfall passierte. Henning hat früher die Wahrheit nie erfahren, die Mutter auf den Segen des Vergessens gehofft. Der Bruder sorgte sich noch immer sehr um seine kleine Schwester Luna. Durch die Geschichte von damals ist er innerlich an sie gebunden. Juli Zeh schreibt ausdrücklich, wie sehr er sie liebte oder vielleicht, wie sehr er davon besessen war, sie vor "Monstern" beschützen zu müssen. Diese Bindung muss er nun auflösen. Also schickt er Luna, die zeitweilig zu Gast ist in seinem Haus, am Ende fort. Henning sieht ihr nach: "Unten tritt Luna aus dem Haus, eine große Frau." Es wirkt, als ob er sie nun freigelassen hätte.

Juli Zeh verfügt zweifellos – und das zeigt auch diese Erzählung – über eine hohe Begabung. Sie vermag Geschichten wie diese strukturell kunstvoll und psychologisch versiert zu formen. Die Autorin malt Schicksale aus, statt diese behutsam anzudeuten. Dennoch, zugespitzt gesagt: Die Geschichte "funktioniert" technisch, aber berührt sie emotional? Es scheint, als rauschten die Personen, ob Henning, Theresa oder Luna, nur am Leser vorüber. Niemand würde bestreiten, dass Henning, dass sie alle im Grunde traurige und bekümmernswerte Gestalten sind. Einige Fragen bleiben, etwa: Hört Henning endlich auf, nur zu funktionieren, und fängt er an zu lieben? Wir können, wir könnten diese Fragen stellen. Oder vielleicht legen wir das Buch einfach auch nur aus der Hand? Eine Gestalt wie Henning gewinnt aber nicht unser Herz. Auch wenn wir ihn leiden sehen, sehr sogar, so leiden wir doch nicht mit ihm mit.


von Thorsten Paprotny - 29. August 2019
Neujahr
Juli Zeh
Neujahr

Luchterhand 2018
192 Seiten, gebunden
EAN 978-3630875729