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Heinz-Günter Bongartz: Das Leben finden

Eine Glaubensgeschichte

Wer den Berichterstattungen in vielen Medien heute unkritisch Glauben schenkt, entdeckt schnell ein Sammelsurium an negativen Schlagzeilen. Die Kirchen und etliche ihrer Amtsträger stehen dann im Zentrum fundamentaler Kritik. Ist der christliche Glaube in der Welt von heute überhaupt noch überlebensfähig? Wer wagt es noch, sich zu Gott und zur Kirche zu bekennen? Der Hildesheimer Weihbischof Heinz-Günter Bongartz, der in den letzten Jahren einige Bände zu Fragen des Glaubens vorgelegt hat, leistet in seinem neuen Buch mitnichten einen Beitrag zur medialen Skandalgeschichte, sondern gibt – glaubwürdig – Zeugnis von seinem Glauben an den lebendigen Gott.

Bongartz bewegt sich in der Spur Jesu. Er tut das nicht selbstbewusst als Kleriker oder als Repräsentant der katholischen Kirche. Ganz persönlich erzählt er von seiner Familiengeschichte, von prägenden Erfahrungen, etwa im Religionsunterricht oder im Elternhaus. Viele Zeitgenossen könnten oder können sich darin wiederfinden. Einige Christen und auch einige, die von der Sehnsucht nach Gott bewegt sind, werden sich fragen: Ist das nicht auch mein Weg? Sind das nicht Erfahrungen, die meinen ganz ähnlich sind? Heinz-Günter Bongartz berichtet bodenständig vom Glauben der Kirche. Er übersetzt zugleich religiöse und theologische Begriffe in eine leicht zugängliche Alltagssprache. So denkt er über den Begriff "Ehrfurcht" nach. Sind Menschen heute noch ehrfürchtig gegenüber Gott? Wissen sie überhaupt, was "Ehrfurcht" bedeutet? Im Wort "Ehrfurcht" ist auch der Begriff "Furcht" enthalten. Doch vor dem Gott des Christentums müssen wir uns nicht fürchten, müssen wir nicht Angst haben. Bei "Ehrfurcht" denken wir an eine "innere Scheu", so Bongartz, an eine Distanz gegenüber dem Numinosen. Er fragt: "Und Gott? Hat Gott Ehrfurcht? Seine Ehrfurcht vor uns hat ein Bild: Jesus aus Nazareth. Aus Ehrfurcht, die ihre Mitte in seiner Liebe zu uns hat, kommt er zu uns, um so zu offenbaren, dass er uns mit seinem Leben berühren möchte. Im Leben Jesu wird erkennbar, mit welcher Freiheit uns Gott beschenkt. Wer in seiner Spur geht, wird Freude daran haben, das eigene Leben in Gemeinschaft mit den Menschen in Freiheit und Liebe zu gestalten."

So einfach klingt das – und mancher Leser wird staunend dankbar sein für diese hoffnungsfrohen, vom Licht des Glaubens erfüllten Worte. Der Glaube ist also nicht die Frucht schwerblütiger Reflexionen über Kirchenreformen, nicht abhängig von Strukturen, Mächten und irdischen Gewalten – und selbstverständlich auch nicht Verhandlungssache in letztlich sekundären Gremien und Verbänden. Glaube wächst nicht als Frucht von Diskursveranstaltungen und erblüht auch nicht aus Papieren und Beschlüssen, ob von Kirchenoberen oder von Laien gefasst. Weihbischof Bongartz, der nicht als Amtsträger, sondern als glaubender Mensch freimütig spricht, erzählt von Begegnung, von der Freude am Glauben und von der Gestaltung gelingender menschlicher Beziehungen, die den Ausblick auf den offenen Himmel gestatten. Ob der Glaube so einfach ist? Wer Bongartz' Buch liest und gewissermaßen auch die Schätze seiner reichen seelsorglichen Erfahrung wahrnimmt, der liest wunderbar formulierte Passagen wie diese: "Es gibt Momente, da können wir auch in unseren Stuben den Himmel schmecken. Es gibt Erfahrungen, da bricht eine Ahnung in uns auf, dass der Himmel sich zu uns herniederkniet. Vielleicht besonders dort, wo wir entdecken, dass wir selbst zu schwach sind, um hinaufzukommen." Bongartz verdankt diese Wendung – dass sich der Himmel niederkniet – der österreichischen Dichterin Christine Lavant und macht sie fruchtbar für den Alltag der Glaubenserfahrung heute. Positiv vor allem erscheint hier, dass Hoffnung und Zuversicht gerade nicht an Äußerlichkeiten, Meinungen oder beste Absichten geknüpft werden, sondern dass das Erlebnis des Außerordentlichen greifbar wird, ohne dass es vieler Worte bedarf. Der Geschmack des Himmels ist also möglich, es bedarf der inneren Wahrnehmung, des geöffneten Herzens und der Empfangsbereitschaft für das Schöne und Gute, das mitten in dieser Welt, auch in Trauer und Leid, erfahrbar ist.

Heinz-Günter Bongartz verweist gerade in Zeiten wie diesen – denken wir nur an die Kriege in der Ukraine und im Heiligen Land – auf "Friede und Solidarität", auf das "menschenwürdige Leben", auf die Hoffnung auf Ort, an denen der Himmel die Erde berührt: "Dort wird Gott hier und jetzt erfahrbar. Dort bekommen wir einen Vorgeschmack, wie der Himmel ist und sein wird. Darum ist der Himmel der Erde nicht fremd. Darum sind wir dem Himmel hier auf Erden nicht fern. Wie die Luft, die wir atmen, ist der Himmel in uns. Und wo wir die Liebe leben, atmen wir bereits hier und jetzt den Odem des Himmels. Wer weiß etwas über den Himmel? Eine letzte Antwort: Die Betenden."

Der Leser grübelt, denkt nach, verstummt, beginnt vielleicht selbst zu beten oder zu stammeln. Gläubige Christen denken vielleicht an Fürbittgebete, die zu Herbergen der besten Absichten geworden zu sein scheinen. Alles hat in ihnen Platz, aber sind sie an Gott gerichtet? Aber das ist nicht gemeint. Bongartz ermutigt hier zu einem unsicheren, frommen Stammeln oder auch zu einem unfrommen Hilfeschrei, der frommer sein könnte, als der Beter selbst oder als der Suchende ahnt, der gar nicht weiß, dass er schon zu beten begonnen hat.

Heinz-Günter Bongartz hat ein Buch für Gläubige und Suchende verfasst, das anschaulich wird durch viele persönliche Erfahrungen, die er mit den Lesern teilt. Zudem werden Hinweise zu Theologen, Dichtern und Denkern sichtbar, die – und das wäre für eine zweite Auflage sehr wünschenswert – präziser hätten belegt werden können. Denn sichtbar ist: Der Seelsorger spricht – und das ist wesentlich, aber die Quellenangaben sind oft unpräzise, auch manche historischen Daten befinden sich in einer vermeidbaren Unschärfe und Unbestimmtheit. Einiges ist auch schlicht falsch. Das ist schade, gerade bei einem theologisch-seelsorglich wertvollen Band wie diesem. Dass etwa Benedikt XVI. 2005 – und nicht 2011, wie im Buch berichtet – den Weltjugendtag in Köln mitfeierte, ließe sich in einer weiteren Auflage korrigieren, manches andere auch.

Diesem Buch über das Leben als Christenmensch in der Welt von heute sind viele Leser zu wünschen. Wer sich heute fragt, ob die Kirche glaubwürdig ist, dem sei das neue Buch von Heinz-Günter Bongartz empfohlen. Er schreibt nämlich über Glaubwürdigkeit und seinen Weg zu Gott. Ein glaubensvolles, schönes und lesenswertes Buch wie dieses, in dem auch Anfechtungen und Zweifel nicht verschwiegen werden, lehrt mehr über den christlichen Glauben als alle Synodalen Wege der Kirche – gestern, heute und morgen. In der Kirche geht es nämlich nicht um säkulare Politik, sondern einzig um den lebendigen Gott. Verhielte es sich anders, dann wäre die Kirche gänzlich überflüssig.


von Thorsten Paprotny - 11. Januar 2024
Das Leben finden
Heinz-Günter Bongartz
Das Leben finden

Spurensuche auf dem Weg Jesu
Schnell & Steiner 2024
256 Seiten, gebunden
EAN 978379543899