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Álvaro García Linera: Vom Rand ins Zentrum

Sei nicht faul, sei kein Lügner, sei kein Dieb

Die Republik Bolivien ist ein politisch äußerst interessanter lateinamerikanischer Staat, welcher sich - ähnlich wie die Bolivarische Republik Venezuela unter dem leider erkrankten Staatschef Hugo Chavez - im Wandel befindet. Diese Veränderungen treffen gleichermaßen Ökonomie, Gesellschaft als auch Politik. Dabei ist es durchaus legitim, zu fragen, inwieweit die benannten drei Bereiche eigentlich zu trennen sind. Kann Gesellschaft von Ökonomie geschieden werden? Was will eigentlich als unpolitisch in die Annalen der Geschichte eingehen?

Angesprochenen Veränderungen wird in weiten Teilen der progressiven Diskurse (auch) in Westeuropa eine durchaus zustehende Relevanz für zukünftige Optionen gesellschaftlicher Organisation in globaler Perspektive zugesprochen. Allerdings sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in Lateinamerika im Allgemeinen und in Bolivien im Besonderen regionalspezifische Aspekte von einer solch erheblichen Bedeutung zeigen, die in weiten Teilen der Welt in dieser Form keine Widerspiegelung finden.

Wer sich spezifisch für die Ursachen aber auch Perspektiven eines nicht selten als "Linksrutsch" bezeichneten Wandlungsprozesses interessiert und nicht alleine soziologisch qualifizierte Analysen präferiert, dem sei ein aktuell ins Deutsche übersetztes Buch des Vizepräsidenten der Republik Bolivien, Alvaro Garcia Linera, ans Herz gelegt.

Linera hat, hinter dem des Präsidenten Evo Morales, in seinem Land nicht nur das wahrscheinlich bedeutendste politische Amt - was im globalen politischen Betrieb im Übrigen absolut keines intellektuellen Backgrounds bedarf - inne. Nein, er gehört auch zu den offensichtlich besten Analysten des im Zeitraum vor Morales seit Jahrzehnten in den Händen der Oberschicht befindlichen Landes. Der Soziologe gilt als eine moralisch-institutionelle Form des im Aufbruch befindlichen Boliviens.

Jean Ziegler, ein im Lager der heutigen als auch ehemalige UN-Sonderberichterstatter - zu letzteren hat man ihn zu zählen - selten zu findender kritischer Kopf, bescheinigt dem 49-jährigen Autor, einer der "bedeutendsten und klügsten Soziologen Lateinamerikas" zu sein (S. 7f). Diese Wertung ist nachvollziehbar, denn der besagte Wissenschaftler hat einen erstaunlichen Lebenslauf aufzuweisen. Vom erfolgreichen Kämpfer in einer marxistischen, indigen gefärbten Guerillaarmee, einer fünfjährigen Gefängnispräsenz dank seinerzeitiger faschistischer Strukturen in seinem Land bis hin zu genanntem Posten des Vizepräsidenten - das haben nicht viele Menschen vorzuweisen, auch und gerade nicht die aus der Gruppe der sich selbst beschönigend nennenden sogenannten Intelligenz.

Die wesentliche Grundlage dieses Lebenslaufes bildet unter anderem der vehemente Einsatz des Verfassers für die Indigenen, also für diejenige Bevölkerungsgruppe(n), die seit der spanischen Okkupation unterdrückt wurde(n). Dieser Despotismus der spanischen Krone bedeutete konkret ein Jahrzehnte dauernder verbrecherischer Terror besagter Besatzer Hand in Hand mit der katholischen Kirche. Die Regierung Evo Morales und deren intellektueller Wegbereiter Alvaro Linera führten und führen unter der Leitung der politischen Organisation MAS (Bewegung zum Sozialismus) zu einem neuen Weg, um historisches Unrecht zu benennen und Folgen zu beseitigen. Dazu gehört beispielsweise, dass die 2012 weiter amtierende, fortschrittliche Regierung Boliviens den klassischen Vorgaben der gerade durch die katholische Kirche verunglimpften Traditionen der indigenen Bevölkerung Rechnung trägt. So wird den traditionellen Grundsätzen der Indigenas (in Peru versteht man exemplarisch darunter die historischen Leitlinien der Inkas) "ama qhilla" (sei nicht faul), ama llulla (sei kein Lügner) und ama suwa (sei kein Dieb) legislativ der gleiche Rang zugestanden, den der seit langem seitens der Spanier oktroyierten katholischen Religion zugesprochen wurde. Mit Blick auf die geschichtlich belegten Diebstahl-"Leistungen" erwähnter Südeuropäer und deren großzügige Unterstützung durch den katholischen Überbau (wie Karl Marx es möglicherweise formulieren würde), gelang Bolivien seit dem Amtsantritt von Evo Morales offensichtlich ein großer Sprung nach vorn.

Die diversen Maßnahmen, die die Regierung unter der Führung der MAS - im Gegensatz zu ihren USA-hörigen Vorgängern - unternahmen, um Bolivien eine zumindest partiell wachsende Unabhängigkeit von international agierenden Firmen der sogenannten "Ersten Welt" zu ermöglichen und die Profite multinationaler Konzerne in nationales Einkommen zu verwandeln, brachte selbstverständlich eine Reihe von Gegnern - beispielsweise die Rohstoffgiganten - auf den Plan. Nicht alleine deshalb ist der Mut der Regierung Boliviens bemerkenswert. Als positives Gegenteil zu den neoliberalen Attacken des klassischen Westens à la USA oder der EU äußerte sich etwa der ehemalige Präsident des im Vergleich zu Bolivien weitaus größeren Brasiliens, Lula da Silva: "Die bolivianische Initiative ist ein Akt der Gerechtigkeit." (S. 8)

Das im Zürcher Rotpunktverlag erschienene, für 28 Euro erwerbbare Werk verfügt über 301 Seiten weitestgehend interessanter Lektüre. Allerdings kann in kritischer Perspektive durchaus Dieter Boris gefolgt werden, der in der deutschen Tageszeitung junge Welt (Nr. 49, 2012, S. 15) dem Buch bescheinigt, dass "vor dem Hintergrund zunehmender Konflikte zwischen einzelnen sozialen Bewegungen und der Regierung im Laufe des Jahres 2011 (…) manches vielleicht noch mehr (hätte) problematisiert werden können". Letztendlich jedoch gelingt Linera in dem sehr professionell zusammengestellten Band ein interessantes Panorama in Bezug auf die politische Entwicklung Boliviens zu öffnen. Gerade mit Blick auf aktuelle Probleme in der bolivianischen Politik - soweit möglich vielleicht sogar transferiert auf das gesamte Lateinamerika oder gar die Welt - kann besagtes Buch einen Beitrag langfristiger Analysen vor allem aus der Perspektive der dem neoliberalen Mainstream skeptisch gegenüberstehenden Zeitgenossen bieten.


von Frank Lukaszewski - 01. April 2012
Vom Rand ins Zentrum
Álvaro García Linera
Vom Rand ins Zentrum

Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien
Rotpunktverlag 2012
300 Seiten, broschiert
EAN 978-3858694454