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Minka Pradelski: Und da kam Frau Kugelmann

Prägende Geschichte über Generationen hinweg

Mit "Und da kam Frau Kugelmann" legt Minka Pradelski ihren ersten Roman vor. Es ist eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit jüdischer Familiengeschichte, die zwangsläufig geprägt ist vom Holocaust. Das eigentliche Hauptthema ihres Romans ist aber das Schweigen zwischen den Generationen, das Schweigen der Holocaustüberlebenden gegenüber ihren Kindern. Pradelski lässt Zippy Silberberg erzählen, deren Eltern zu eben dieser schweigenden Generation gehören, die aber auf einmal einer redseligen alten Frau begegnet und sozusagen das nachholt, was ihre Eltern ihr vorenthalten haben.

Zippy, eine seltsame Frau, die sich mit Vorliebe von Gemüse im tiefgekühlten Zustand ernährt, kriegt plötzlich die Nachricht, dass ihre Tante gestorben ist. Doch damit nicht genug: Zippy hat sogar etwas geerbt. Einen alten Koffer und ein Besteckkasten mit unvollständigem Inhalt. Kurzentschlossen reist sie nach Tel Aviv, um ihr Erbe anzutreten. Ein Unterfangen, das angesichts ihrer ungewöhnlichen Essgewohnheiten nicht ganz unproblematisch ist.

Die eigentliche Herausforderung für Zippy wird dann aber weniger das nicht immer verfügbare tiefgekühlte Gemüse, sondern die Begegnung mit Frau Kugelmann, die sich ihr, kaum im Hotel eingerichtet, regelrecht aufdrängt und einfach anfängt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Eine lästige Angelegenheit, die Zippy lieber so schnell wie möglich beenden würde. Je länger Frau Kugelmann einfach erzählt, desto schwächer wird aber Zippys Widerstand. Kugelmann, die von ihrem Heimatort Bendzin in Polen berichtet, wo vor dem Zweiten Weltkrieg paradiesische Zustände für Juden herrschten, paradiesisch, weil man sie leben liess, wie sie leben wollten, wo sich zuerst schleichend, dann aber ziemlich abrupt das neue deutsche Regime bemerkbar machte und damit das Dorf für Juden in eine Hölle verwandelte, zieht Zippy immer stärker in ihren Bann. Die Begierde nach Kugelmanns Geschichte ersetzt die Gier nach tiefgekühltem Gemüse, das sie sozusagen an Stelle der gefrorenen Gefühle ihrer Eltern in sich hineingestopft hat. Und plötzlich wird klar, dass sie hier ihrer eigenen Familiengeschichte lauscht.

Pradelski, in erster Linie Soziologin und Dokumentarfilmerin, schöpft aus ihrer Auseinandersetzung mit den Traumatisierungen von Holocaustüberlebenden und aus ihrer eigenen Geschichte. Kritisieren an ihrem Debüt könnte man allenfalls, dass die Geschichte etwas überkonstruiert und symbolüberfrachtet ist. Das Positive überwiegt aber: Pradelski zeigt auf einfache und eingängige Art und Weise auf, welche Nachwirkungen Geschichte über Generationen haben kann. Ein kurzer Dialog zwischen Zippy und Kugelmann, der die Tragik auf den Punkt bringt:
"Wissen Ihre Kinder, was sich in meinem Hotelzimmer abspielt?", frage ich liebevoll und ergreife ihre Hand. Ich wollte, sie liesse sich in den Arm nehmen und ich könnte ihr geben, was ich Vater und Mutter verwehrt habe.
"Nein, sie wissen nichts."
"Mich habe Sie so sehr beschenkt. Ich bin viel reicher als Ihre Kinder. Stört Sie das nicht?"
"Doch", sagt sie traurig. "Vielleicht", sagt Frau Kugelmann und starrt ins Leere, "sollten alle Überlebenden ihre Geschichten fremden Kindern erzählen, weil es mit den eigenen so schwierig ist."


von Jan Rintelen - 10. Juni 2006
Und da kam Frau Kugelmann
Minka Pradelski
Und da kam Frau Kugelmann

Frankfurter Verlagsanstalt 2005
254 Seiten, gebunden
EAN 978-3627001230