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Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

Bruchstücke eines Lebens

In seinem kleinen, aber inhaltlich und stilistisch schwergewichtigen Roman erzählt Karl-Heinz Ott die Geschichte der 62-jährigen Sonja. Über dreißig Jahre lang war sie Chefin eines altehrwürdigen Familienhotels am Bodensee. Jetzt führt sie eine abgetakelte Pension in einem Dorf am Meer in einer der einsamsten Gegenden des ansonsten schon hinterwäldlerischen Wales. Jeden Morgen hört sie das Meer und geht zu einem Felsen, voller Gedanken an ihren eigenen Tod, den sie imaginiert und manchmal regelrecht herbeisehnt. Nur einen Sprung und sie wäre erlöst von einem Schicksal, das sie hart getroffen hat.

Doch Sonja gibt nicht auf. Immer zwischen der Gegenwart im verlassenen Wales, wo sie sich um die wenigen Gäste der heruntergekommenen Pension eines Onkels von Mister Pettibone kümmert - die einzige Zuflucht, die sie nach dem Debakel mit dem eigenen Hotel gefunden hat - und den Stationen ihres Lebens wechselnd, setzt Karl-Heinz Ott, nicht immer chronologisch, die Bruchstücke eines im Grunde genommen traurigen Lebens zusammen.

Dieser Mister Pettibone hat über die ganzen dreißig Jahre, auch in den letzten, als die Schwierigkeiten des Hotels nicht mehr zu übersehen waren, ihr als Gast die Treue gehalten und hat jedes Jahr auf dem Weg in die Schweiz bei ihr Station gemacht. Er hat ihr nach dem großen Debakel diesen zugigen und öden Ort vermittelt.

Und nun steht sie am Meer und blickt zurück. Auf ihre schwere Kindheit, als ihre unfähigen und überforderten Eltern sie als kleines Mädchen in ein katholisches Internat stecken. Bei aller Strenge der dortigen Schwestern ist Sonja nach dem Ende der Schulzeit doch froh, dass sie von diesen nach St. Moritz auf eine Lehrstelle in einem Hotel vermittelt wird. Dort lernt sie auch den begabten Koch Bruno kennen, der es schon bald zum Sous-chef des großen Hauses schafft, wo auch Sonja arbeitet. In Liebesdingen ist er allerdings nicht nur ungeschickt, sondern auch uninteressiert. Das wird leider so bleiben über Jahrzehnte hinweg und so manches Mal wird sich Sonja nach einer auch nur kurzen Umarmung ihres Mannes sehnen. In dieser Beziehung bleibt sie ihr ganzes Leben lang unglücklich.

Dann, als Brunos Vater stirbt, verlangt die Mutter, dass er das familieneigene Hotel am Bodensee übernimmt. Gegen Widerstand der Mutter bauen Sonja und Bruno das Hotel und das angeschlossene Restaurant innerhalb weniger Jahre in eine auch überregional bekannte Location aus, die schon bald zum Geheimtipp für Gourmets wird.

Als Bruno sich seinen ersten Michelin-Stern erkocht, kommen sie vor lauter Arbeit kaum mehr zu sich. Sie werden so berühmt, dass sogar Helmut Kohl und der französische Präsident Jacques Chirac bei ihnen absteigen.

Sie sind auf dem Höhepunkt. Jeden Tag werden sie vom Pariser Fischmarkt beliefert, doch obwohl sie über Wochen im Voraus ausgebucht sind, bleibt wegen der enormen Kosten, die eine solche Sterneküche und der exquisite Weinkeller verschlingen, kaum etwas übrig. Auf der Höhe des Erfolgs haben sie kaum Mittel, das Haus immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Die Qualitätsanforderungen haben sich, seit sie das Hotel übernahmen, extrem erhöht und bald schon ist es eigentlich nur das Sternerestaurant, das die Hotelgäste über die zunehmenden Mängel hinwegsehen lässt.

Doch als Bruno nach langen erfolgreichen Jahren plötzlich der Stern wieder aberkannt wird, bleiben Krethi und Plethi, die sich all die Jahre die Klinke in die Hand gegeben haben, über Nacht weg. Sonja und Bruno müssen ihre Karte anpassen, doch der Weg in den langsamen Untergang ist schon vorgezeichnet. Bruno findet in seiner Verletzung über den verlorenen Status keine Kraft zu einem Neuanfang und die beiden Eheleute kein gemeinsames Zentrum mehr, das sie außerhalb ihrer Arbeit auch nie besaßen. Er fängt an, nachts im Keller zu trinken, ein Selbstmord auf Raten, den er eines Tages, die Bank gibt schon lange kein Geld mehr, auch mit Tabletten abschließt.

Die ehemals so resolute Sonja ist am Boden zerstört. Sie versucht, in der nahen Schweiz eine Arbeit zu finden, doch niemand ist bereit, einer offensichtlich gescheiterten älteren Frau noch einmal eine Chance zu geben.

Brunos Bruder Arno bietet ihr eine Schuldumschreibung gegen Aufgabe aller Ansprüche an und ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen und sich in das öde und nasse Wales zurückzuziehen, wo sie allerdings im Laufe ihres Nachdenkens über die Stationen ihres Lebens langsam stärker wird und denkt: "Vielleicht musste alles so kommen, wie es gekommen ist. Vielleicht hat alles seine Richtigkeit gehabt. Vielleicht gibt es doch eine Vorsehung. Vielleicht erledigt das Schicksal einfach sein Geschäft."
Und jeden Morgen geht sie ans Meer, "und immer denkt sie, ich könnte springen…"

Karl-Heinz Ott hat einen besonderen Roman geschrieben, in dem sogar das Unglück seine ganz eigene Poesie entfaltet. Sehr geschickt, unaufdringlich und kunstvoll fügt er die einzelnen Lebensbruchstücke einer zerstörten Existenz zu einem bewegenden und traurigen Psychogramm zusammen.

Indem er seine Hauptfigur Sonja ehrlich und selbstkritisch die Trümmer ihrer Existenz auflesen und beschreiben lässt, deutet er bei allem Unglück und aller Hoffnungslosigkeit ganz leise und zart so etwas wie einen Neuanfang an. Vielleicht, so der Eindruck des Rezensenten, hat diese einsame und ungeliebte Frau doch noch eine Zukunft. Vielleicht gibt es irgendwann irgendjemand, mit dem sie so etwas wie Rettung und späte Erfüllung findet.

Und es bleibt der Eindruck des gewaltigen Meers und seiner auch zerstörerischen Kräfte, die daran erinnern, dass in unserem Leben nichts sicher ist. Jederzeit kann in ein normales Leben etwas treten, was es in seinen Grundfesten erschüttert und manchmal auch zerstört.

Und es bleibt die Warnung: wer nur in der Arbeit seinen Lebenssinn sucht, der wird irgendwann scheitern.

Karl-Heinz Otts kleiner Roman zeigt seine große sprachliche Kunst und man wartet gespannt auf ein neues Buch bei seinem neuen Verlag.


von Winfried Stanzick - 13. Januar 2019
Und jeden Morgen das Meer
Karl-Heinz Ott
Und jeden Morgen das Meer

Hanser 2018
144 Seiten, gebunden
EAN 978-3446259959