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Louis Malle: Mein Essen mit André

Louis Malle: Salonrevolution beim Wachtelessen

"Ich hab das Gefühl, ich bin völlig am Boden, ich habe das Gefühl, ich hab mein Leben verplempert", meint André, der nicht so ein Firlefanz sein will, wie die Leute, die Billie Holiday anschauen und applaudieren, obwohl sie nichts davon verstehen, diese "intellektuellen Armleuchter". Der einstige Avantgarde-Regisseur André Gregory, jetzt 48, hat sich unter Grotowskis Fittichen Wochen in einem Selbsterfahrungstheater-Camp in polnischen Wäldern versteckt, sein Gegenüber, Wally, schwört auf Heizdecken. "Die 60er waren wohl der alllerletzte Ausbruch des Menschen vor seiner Vernichtung.", so der Kulturpessimist André, aber der Bühnenregisseur Wally trifft sich mit seinem alten Freund zu einem Abendessen in einem französischen Restaurant in New York, um ihm das Leben zu retten. Die Kamera begleitet Wally auf seiner U-Bahn-Fahrt ins Restaurant und wieder zurück nach Hause, aber der Großteil des Films ist eigentlich eine Einstellung: die beiden Freunde beim Wachtelessen. Sie diskutieren über Gott und die Welt und eigentlich hat der kleine, lebenslustige und stets munter kichernde Wally sich nur mit André getroffen, weil er gehört hatte, dass dieser suizidgefährdet sei. Doch am Ende lernt er dann mehr von André, als André von ihm, denn das eigentlich größte Geschenk der Welt ist doch die Freundschaft, die einen ein Leben lang verbindet.

Die Domestizierung des Fuchses

Die beiden unterhalten sich über Stanislawski, Franziskus’ Danklied, die Domestizierung des Fuchses durch den kleinen Prinzen, oder über Bertolt Brecht und Eleonore Duse. "Das Gefühl, mit allem verbunden zu sein, schließt natürlich den Gedanken an den Tod mit ein", erklärt André bedeutungsschwanger und erzählt gleich darauf munter die Geschichte, wie ihm eine Freundin einmal in einem Brief schrieb: "Du hast mich dominiert", aber eigentlich meinte sie domestiziert, wie beim kleinen Prinzen, denn wer das macht, der übernimmt die Verantwortung für das Leben des anderen. Er wäre ein Zähmer von wilden Tieren, meint André selbst, amüsiert, und erzählt von der Bienenkorb-Anekdote, bei der 100 Leute in seiner Wohnung Platz fanden. Das allerwichtigste Wort im ganzen Buch wäre das Domestizieren, ist André überzeugt, während der alte Kellner mit den Wimpern zuckt und die Wachteln auftischt.

Sprache des Herzens

In der Sahara unter Sternen und Kamelen habe er mit seiner Frau, Chiquita, gelegen, in Indien ein Gebet für Ungeziefer rezitiert. Das entzückte Kichern Wallys unterbricht das Wachtelessen und Andrés Erzählung vom Lebendig-begraben-sein, einem Experiment, dem er sich in Tibet unterzogen habe. Aber die Wachteln schmecken trotzdem und die Worte "Sie leben alle in einer Art Traumwelt, alle in Trance, laufen rum wie Zombies" verhallen. Wally spielte einmal die Katze in einer Inszenierung von Bulgakows "Meister und Margherita" und versteht André, wenn er meint: "Versuch es mal direkt, deine Gefühle auszudrücken, dann werden sie alle verrückt...". Die Leute würden nur in Symbolen leben, keiner sage, was er wirklich denke. Rollenspiel, Ignoranz, wirkliches Ich vorenthalten, nichts von unseren besten Freunden zu wissen, obwohl wir gerne wissen würden, was unsere Freunde durchmachen, aber keiner wage zu fragen. "Abendessen und Partys: das ist unser Leben."

Glückskekse zur Delegation von Verantwortung

"Wenn dein ganzes Handeln nur mehr zu Gewohnheit wird, dann kann man kaum noch von Leben sprechen. (...) Wenn dein Leben bloß noch mechanisch ist, dann musst du es ändern. Und dann eines Tages wünscht man sich in eine Beziehung, aber ist das sakrale Element noch da? Je näher du einem Menschen kommst, desto rätselhafter wird er...". "Okay", sagt André, "Wir sind gelangweilt, ja, totalitäre Verschwörung des Kapitals, jemand der gelangweilt ist, schläft, und jemand der schläft... Orwellscher Albtraum, New York ist ein Konzentrationslager. Die 60er waren wohl der allerletzte Ausbruch des Menschen vor seiner Vernichtung. Von jetzt an werden nur mehr diese Roboter herumspazieren, gefühllos und gedankenlos und es wird niemand mehr übrig bleiben... dass es früher einmal menschliche Wesen gab und Gefühle, da das Erinnerungsvermögen ausgemerzt ist, wird das niemand mehr wissen. Das ist so gut, dass sich bald niemand mehr erinnern wird, dass es Leben gegeben hat auf diesem Planeten." André träumt von einem Reserverat, in dem das menschliche Wesen Asyl findet, um die Gattung über ein dunkles Zeitalter hinaus zu retten. "Alle Aktivität ist ein Sakrament in der Welt." Ob Wachteln essen auch dazugehört?


von Juergen Weber - 02. Februar 2017
Mein Essen mit André
Louis Malle (Regie)
Mein Essen mit André

STUDIOCANAL 2016
Laufzeit: ca. 108 Minuten
EAN 4006680079899