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Karl-Heinz Paqué, Richard Schröder: Gespaltene Nation? Einspruch!

Die Deutsche Einheit wohltuend nüchtern betrachtet

Jahrestage sind oftmals beliebte Anlässe, einerseits nicht nur sachlich und nüchtern über vergangene Ereignisse bzw. Entwicklungen Bilanz zu ziehen oder persönliche Eindrücke zu erzählen, sondern andererseits mit verblassenden Erinnerungen Fakten zu vernachlässigen und gar Mythen entstehen zu lassen. Diese Feststellung trifft auch für den 3. Oktober zu, der als "Tag der Deutschen Einheit" im Einigungsvertrag 1990 zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt wurde.

In der Einleitung zur vorliegenden Streitschrift machen die beiden Verfasser deutlich, dass die deutsche Wiedervereinigung immer häufiger zum Gegenstand von "Legenden" wird – und diese werden sowohl auf dem ökonomischen als auch auf dem gesellschaftlichen und sozialen Feld insbesondere von politisch linken und rechten Gruppierungen aufgegriffen und befeuert. Was den wirtschaftlichen Kern des Mythos vom "Opfer Ost" betrifft, begegnet man nicht selten etwa dem folgenden Argumentationsmuster: "Die Wirtschaft der DDR war trotz einiger Schwächen funktions- und leistungsfähig. Mit gutem Willen und ruhiger Hand hätte man sie Schritt für Schritt in die neue Welt der globalen Marktwirtschaft überführen können, aber das war nicht im Interesse der westdeutschen Industrie. Diese nutzte ihren politischen Einfluss, um die Substanz der DDR-Wirtschaft zu zerstören oder zumindest fatal zu schwächen. Handlanger dafür war die Treuhandanstalt." Und etwas weiter: "Deren Wirken [gemeint ist die Treuhandanstalt] gilt als eine Art Ursünde der Deutschen Einheit, die tiefe Spuren in der Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft und im Stolz der Bevölkerung hinterlassen hat." Eine solche Interpretation halten die Autoren falsch und gefährlich: "falsch, weil sie den Fakten widerspricht; gefährlich, weil sie eine Spaltung erst schafft, die es noch gar nicht gibt. Deshalb auch der Titel dieses Buchs: Gespaltene Nation? Einspruch!"

Nach einer kurzen Einleitung (Kapitel 1) befasst sich der politische Ökonom Karl-Heinz Paqué, Professor für internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und ehemaliger FDP-Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt, im Kapitel 2 mit den "Fakten" der wirtschaftlichen Dimension der Deutschen Einheit. Nüchtern und anhand von vielen Zahlen bzw. Statistiken werden das wirtschaftliche Erbe der DDR und die wichtigsten Weichenstellungen nach dem Mauerfall umfassend analysiert. Als Ergebnis seiner Untersuchungen stellt der Autor fest, dass sich das Wachstum der DDR-Wirtschaft von 1950 bis 1989 zweifelsohne kontinuierlich entwickelte und sich auch der Lebensstandard der Bevölkerung über die vier Jahrzehnte stetig verbessert hat. Das eigentliche Kernproblem der Planwirtschaft lag hingegen eher in ihrer Ineffizienz und mangelnden Innovationskraft, was selbst das noch von Egon Krenz in Auftrag gegebene und kurz vor dem Mauerfall vorgelegte Gutachten zur Lage der DDR-Wirtschaft (der sog. "Schürerbericht") schonungslos bestätigte. Diese in Ost und West lange Zeit deutlich unterschätzten Schwächen der DDR-Wirtschaft zwangen nach der Wende – angesichts des freien Falls der ostdeutschen Industrie verbunden mit einer massiven Abwanderung – zum schnellen Handeln. Paqué beschreibt den Weg von der "Wirtschafts- und Währungsunion" und der noch von der Regierung von Hans Modrow eingeleiteten Gründung der Treuhandanstalt hin zum Aufbau Ost bis zur zwischenzeitlich erreichten Renaissance der Industrie. Er verschweigt jedoch nicht, dass der eingeschlagene Sonderweg seinen Preis hatte und durch das tiefe Tal der fast kompletten Deindustrialisierung führte. Nach Ansicht des Autors ist dabei jedoch auch zu berücksichtigen, dass der große Stellenabbau ganz ohne Treuhand stattfand und durch einen dramatischen und sich rasch vollziehenden Strukturwandel – etwa in der Landwirtschaft und im Bergbau – verursacht wurde, dem andere Industrienationen bzw. Regionen im Westen schon früher unterworfen waren.

Nach Auffassung des Verfassers befindet sich die Innovationskraft, Forschung und Entwicklung, gerade in Privatunternehmen in Ostdeutschland, noch lange nicht auf west- oder gar süddeutschem Niveau und die komplette Angleichung der Ost-West-Lebensverhältnisse wird vermutlich noch viele Jahre dauern. Dennoch kann sich das bislang erzielte Ergebnis unter Maßgabe der Umstände und auch im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Das Fazit seiner ökonomischen Analyse macht Paqué u. a. an folgenden Kernpunkten fest:

  • die Wertschöpfung pro Erwerbstätigen liegt in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) heute gesamtwirtschaftlich bei 84% und die Löhne bei fast 90% des Niveaus im Westen, in der Industrie sind es 73% bzw. mehr als 80%;
  • seit 2012 fällt die Wanderungsbilanz zwischen Ost und West nicht mehr negativ für den Osten aus; im Gegenteil, in jüngster Zeit wandern mehr Menschen zu als ab;
  • die ostdeutschen Großstädte schrumpfen nicht mehr, sondern wachsen seit 2010;
  • unter allen deutschen Ländern kann Berlin seit Mitte der 2000er-Jahre das dynamischste Wachstum verzeichnen, von dem ein ganzer Ring von Mittelzentren profitiert;
  • die Zufriedenheit der Menschen im Osten – im Hinblick auf Lebensbedingungen, persönliche Umstände und wirtschaftliche Verhältnisse – ist weit besser, als oftmals vermutet wird.

Infolgedessen fällt es dem Autorenduo schwer, die Gründe für die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen im Osten (man denke nur an die Wahlerfolge der AfD und Dresdens PEGIDA-Demonstrationen), welche Deutschland in den letzten Jahren zunehmend beschäftigen, vor allem auf den wirtschaftlichen Rückstand des Ostens zurückzuführen. Beide Verfasser vermuten vielmehr, dass diese Entwicklung eher mit dem Erbe der DDR-Diktatur als mit Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu tun hat. Diese Überlegungen werden vor allem vom Theologen und Philosophen Richard Schröder (nach dem Mauerfall Fraktionsvorsitzender der SPD in der frei gewählten Volkskammer der DDR und em. Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin) im 3. Kapitel des Buchs, das sich mit "Mythen" befasst, aufgegriffen. Schröder war in der DDR-Zeit als evangelischer Pfarrer und dann als Dozent für Philosophie an kirchlichen Institutionen tätig. Er ist das, was man einen Zeitzeugen nennt und zwar für die Zeit der DDR, der Wiedervereinigung und schließlich der drei Jahrzehnte danach. Er widmet sich in seinem Beitrag schwerpunktmäßig den unterschiedlichen Mythen, welche seit den 1990er-Jahren entstanden sind.

Das sind zum einen die Mythen über das Leben und den Staat in der DDR. Hierzu beschreibt Schröder den Alltag in der DDR, untersucht die subtilen Herrschaftsinstrumente dieses Unrechtsstaats und analysiert detailliert all die vermeintlichen Vorzüge, in deren Genuss die Ostdeutschen gekommen waren, etwa billige Mieten, sichere Arbeitsplätze, kostenlose staatliche Kinderbetreuung, billige Grundnahrungsmittel, besseres Gesundheitswesen, etc. Auch setzt er sich eingehend mit den Mythen über die friedliche Revolution, die nachfolgende wirtschaftliche Transformation und die politische Vereinigung auseinander, ohne dabei zu verschweigen, dass es "… im Zug der Wiedervereinigung zweifellos für viele Ostdeutsche zu schmerzlichen Überraschungen und harten biografischen Brüchen gekommen" ist. Im dritten Themenkomplex der Domäne der Mythen geht es dem Autor um die Verzerrungen bzw. Dramatisierungen der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland, die in jüngster Zeit Konjunktur haben. Scharfsinnig und schonungslos werden von ihm so manche Opfermythen, Dolchstoßlegenden und populistischen Parolen mittels einer nüchternen Analyse von Fakten entlarvt.

Das Buch schließt im Kapitel 4 mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick auf neue Herausforderungen. Alles in allem enthält dieses Werk eine wichtige faktenbasierte Bestandsaufnahme und stellt damit einen wesentlichen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über die 30 Jahre Deutsche Einheit dar. Es belegt eindrucksvoll, dass die Menschen im Osten durch ihre friedliche Revolution mit der anschließenden Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten weit mehr gewonnen als verloren haben. Bei allen noch verbleibenden und ernst zu nehmenden Ost-West-Unterschieden in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und sozialer Hinsicht kann jedoch von einer vertiefenden Spaltung keine Rede sein. Vielmehr gilt, und das ist der Eindruck den auch die meisten Beobachter aus anderen Nationen gewonnen haben, dass das Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung als höchst respektabel bewertet werden kann – "vielleicht nicht optimal, aber unter den gegebenen Umständen fast schon vorbildlich."


von Bernd W. Müller-Hedrich - 11. Dezember 2020
Gespaltene Nation? Einspruch!
Karl-Heinz Paqué
Richard Schröder
Gespaltene Nation? Einspruch!

30 Jahre Deutsche Einheit
NZZ Libro 2020
289 Seiten, gebunden
EAN 978-3907291009