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Vivian Wagner: Erinnerungsverwaltung in China

Archive in China

China ist in. Das Reich der Mitte boomt, und das nicht nur wirtschaftlich. Zunehmend wenden sich deutsche Wissenschaftler sinologischen Themen zu. Den Bereich der Archivwissenschaft haben bisher nur wenige beschritten. In ihrer an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg verfassten Dissertation widmet sich Vivian Wagner erstmals eingehend der chinesischen Archivwissenschaft: Vom kaiserlichen China bis in die Gegenwart. Im Gegensatz zu vielen anderen Publikationen auf diesem Gebiet benutzt die Autorin eine Fülle chinesischer Quellen und Publikationen.

Der Aufbau der Untersuchung orientiert sich an den politischen Zäsuren des fernöstlichen Kontinentalstaates. Im ersten Teil wird die Erinnerungs- und Schriftgutverwaltung des kaiserlichen Chinas und der Republik bis zur Machtübernahme der Kommunisten 1949 nachgezeichnet. Schon während der Kaiserzeit wich die Archivpolitik Chinas von westlichen Modellen ab. Die kontrollierte Aufarbeitung des Materials hatte "eindeutig Priorität vor deren konservatorischer Funktion". Das Motto "Die Vergangenheit für die Zukunft dienstbar machen" (S. 54) galt es stets einzuhalten. Die Archive im kaiserlichen China hatten, anders als im Westen, auch die Aufgabe eine Dynastiegeschichte zu schreiben. So ergab sich, immer wenn eine Dynastie untergegangen war, ein fester Zyklus mit klaren Grenzen.

In der Republikzeit hingegen gab es eine Art Öffnung bezüglich westlicher archivischer Modelle. Im Gegensatz zur Kaiserzeit nahm man nun eine stärkere Gewichtung "zugunsten des langfristigen Erhalts von Archivmaterial" vor (S. 115). In langsamen Schritten schuf die Republik China die Voraussetzungen eines archivalischen "Speichergedächtnisses" und entfernte sich damit vom traditionellen "Funktionsgedächtnis". Gänzlich gelöst hat man sich von den alten Fesseln allerdings nicht. Zweckbestimmung der chinesischen Archive war auch weiterhin die administrative und historiografische Nutzung.

In der kommunistischen Volksrepublik China kam es, wie in vielen kommunistisch regierten Ländern, zur Adaption des sowjetischen Modells innerhalb der Archivpolitik. Konkret hieß das die Schaffung eines "orthodoxen Modells" (S. 393). Die kommunistische Regierung hatte ein großes Interesse an der Dokumentation aller Verwaltungsebenen und schuf aus diesem Grunde zahlreiche Lokalarchive und Registraturen. Parteiakten hatten gegenüber den Unterlagen der Regierungsbehörden klaren Vorrang. Ähnlich wie in der Sowjetunion waren auch in China die Zugangsregeln für die Archive sehr restriktiv. Nicht nur der Rang des Benutzers, sondern vor allem dessen Verwertungsmotiv entschieden über die Freigabe von Akten. Strenge Auswahlkriterien ("Verbot der horizontalen Kommunikation") sowie die letzte Entscheidungsgewalt und damit Willkür der Kommunistischen Partei Chinas prägten die Nutzerpolitik des Staates.

Nach der blutigen Kulturrevolution wurde das Archivwesen weitgehend zerschlagen und "die Archivarbeit stagnierte" (S. 439). Zahlreiche Dokumente wurden unwiederbringlich zerstört. Dagegen wurde politisch nützliches Material instrumentalisiert. Bis heute, auch wenn sich partielle Verbesserungen eingestellt haben, hängt es vom politischen Willen ab, ob Akten freigegeben werden.

Insgesamt hat Vivian Wagner herausarbeiten können, wie unterschiedlich sich die Erinnerungsverwaltung in China von der kaiserlichen Zeit bis in die Gegenwart entwickelt hat, und welche archvischen Konzepte ihr zu Grunde lagen. Die kaiserlichen Archive "funktionierten als integrale Instrumente der Staatspolitik" (S. 642). Der Kommunistische Staat reduzierte hingegen die Aufgaben der Archive auf "seine Funktion als Instrument des Klassenkampfes" (S. 646). Es erfolgte eine dramatische Radikalisierung des Primats der Politik des orthodoxen Modells zur Zeit der Kulturrevolution.

Vivian Wagner hat eine Pionierstudie vorgelegt, die in den nächsten Jahren maßgebend sein wird. Allein die Auswertung des chinesischen Materials ist eine Anerkennung wert. Hinzu kommt die bisweilen kurzweilige Lektüre. Vivian Wagner hat es geschafft, einen trockenen Untersuchungsstoff ansprechend darzustellen, ohne dabei wissenschaftliche Pfade zu verlassen.


von Benjamin Obermüller - 09. November 2006
Erinnerungsverwaltung in China
Vivian Wagner
Erinnerungsverwaltung in China

Staatsarchive und Politik in der Volksrepublik
Böhlau 2006
747 Seiten, broschiert
EAN 978-3412314057