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Hannah Pick-Goslar: Meine Freundin Anne Frank

Warmherzige Erinnerungen an Anne Frank

Zu den meistgelesenen Büchern des 20. Jahrhunderts gehört "Das Tagebuch der Anne Frank", die bewegenden, erschütternden autobiographischen Notizen eines Mädchens, das 1929 in Frankfurt geboren wurde, mit der Familie nach Amsterdam emigriert war, von der nationalsozialistischen Besatzungsmacht zunächst nach Auschwitz deportiert wurde und schließlich im Konzentrationslager Bergen-Belsen im Februar oder März 1945 zu Tode kam. Ihre Freundin Hannah Pick-Goslar erzählt in diesem zutiefst berührenden Band ihre eigene Geschichte – und berichtet von ihren Begegnungen mit Anne Frank.

Hannah Pick-Goslar nennt Anne ihre "allererste Freundin". Sie lernten sich in Amsterdam kennen, spielten miteinander, waren Nachbarinnen und Mitschülerinnen. Anne, dieses "so lebendige kleine Mädchen" sollte das "berühmteste aller Holocaustopfer" werden, ein "vielschichtiges Symbol für all die Hoffnung und die großen Erwartungen, die in Hass und Mord untergingen". Anne war und blieb für Hannah "einfach nur meine Freundin", ein Mädchen mit Namen Annelies, das Anne genannt sein wollte und wie sie kein Niederländisch sprechen konnte. Die beiden waren froh, "einander zu finden", besuchten gemeinsam die Schule, in dem nach dem pädagogisch liberalen Montessori-Ansatz unterrichtet wurde. Die Kinder durften selbst staunend und neugierig sich aussuchen, was und wie sie lernen wollten. Hannah beschreibt sich als eher schüchtern, Anne hingegen also aufgeschlossen: "Ihre zarte Gestalt stand im Widerspruch zu ihrer großen Persönlichkeit. Sie hatte immer Ideen für neue Spiele parat und war die geborene Anführerin. Sie war selbstbewusst, auch im Umgang mit Erwachsenen. Sie fragte Erwachsene alles; eigentlich war es so, als würde sie andauernd Fragen stellen. Ich staunte nur, wie ihr so viele einfielen."

Die Freundschaft zu Anne weitete und vertiefte sich bald. Anne stand "liebend gern im Mittelpunkt", sie "sprühte vor Lebendigkeit und erhellte jeden Raum". Ihre große Schwester Margot, anmutig und ruhig, hatte ein gutes Verhältnis zu Anne und nahm die redselige, geistreiche jüngere Schwester oft in Schutz: "Während meine Freundschaft mit Anne immer enger wurde, näherten sich auch unsere Familien immer stärker an. Häufig kamen sie zum Sabbatmahl oder zu jüdischen Feiertagen wie Passah zu uns, und Silvester verbrachten wir jedes Jahr bei Franks; die Erwachsenen unterhielten sich bis spät in die Nacht, und wir Kinder versuchten, so lange wie möglich aufzubleiben." Die Mütter hatten Heimweh nach Deutschland, sie waren von einer "gewissen Traurigkeit" umgeben.

Hitlers Wehrmacht marschierte am 10. Mai 1940 in die Niederlande ein. Anschaulich und bedrückend berichtet die Erzählerin über das "Brummen der Flugzeuge". Hannahs Eltern wirkten "wie gelähmt". Die Regierung rief dazu auf, die Vorhänge geschlossen zu halten und nicht ans Fenster zu gehen. Die deutsche Luftwaffe griff Schiphol an: "Das Dröhnen stammte von Kampfflugzeugen, die niedrig über den Himmel schwärmten und aussahen, als würde eines über dem anderen schweben. An manchen Stellen flogen sie so niedrig, dass man die Hakenkreuze auf den Tragflächen erkennen konnte. Es war eine massive Machtdemonstration." Ohne Kriegserklärung griffen die deutschen Truppen die neutralen Niederlande an. Im Frühling 1942 mussten sich alle Juden einen "senfgelben Davidstern" auf die Kleider nähen: "Wir sollten das mit einem Stern bedruckte Stück Stoff bei unserer Synagoge abholen und gingen also zur Lekstraat. Wir mussten ihn kaufen – vier Cent für vier Sterne -, und wenn wir ohne diese Markierung als Juden erwischt wurden, würden wir ins Gefängnis kommen." Die Last des "Stückchens Stoff" wurde bald sichtbar, wenn Passanten ohne Stern die Juden mitleidig, verächtlich oder, "vielleicht am schlimmsten", gleichgültig ansahen.

1943 erfolgte die Deportation der Familien. Anne wurde nach Auschwitz gebracht, doch in Bergen-Belsen kommt es zu einer unerwarteten Begegnung mit der Freundin Hannah aus Amsterdam, "zwei verstörte Mädchen unter einem regenschweren Nachthimmel, getrennt von dieser Barriere aus Stroh und Stacheldraht. Anne berichtet Hannah davon, dass in Auschwitz die Häftlinge vergast wurden. Sie hatte die Rauchschwaden über den Krematorien gesehen. Hannah ist fassungslos. In Bergen-Belsen seien Menschen an Hunger und Krankheiten verstorben, bei Fluchtversuchen erschossen, aber nicht systematisch vergast worden: "Es überstieg meine Vorstellungskraft. Annes Stimme gehörte in eine Welt weit weg von hier, zu unserem Merwedeplein, an dem wir unsere Nachmittage in der Welt des Spiels und unserer Fantasie verbracht hatten, wo wir nie hungerten und in warmen Betten schliefen, umsorgt von liebenden Eltern. Und mit dieser Stimme, die ich so gut kannte, sagte sie jetzt, dass in Auschwitz Menschen vergast wurden, darunter ihre eigenen Eltern. Wie konnte das möglich sein?"

Hannah Pick-Goslar erzählte eine erschütternde, wahre Geschichte, aus düstersten Zeiten. Diese Erinnerungen bezeugen die Schrecken der NS-Zeit, die entsetzlichen Grausamkeiten, zu der Menschen fähig sind, aber auch die Schönheit einer Freundschaft zwischen zwei Mädchen in finstersten Zeiten. Anne Frank wird unvergessen bleiben. Sie war, ist und bleibt das Gesicht für die zahllosen Opfer des Holocaust. Diesem außerordentlich wichtigen Buch ist eine große und einsichtige Leserschaft sehr zu wünschen.


von Thorsten Paprotny - 16. Februar 2024
Meine Freundin Anne Frank
Hannah Pick-Goslar
Elsbeth Ranke (Übersetzung)
Meine Freundin Anne Frank

Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust
Penguin 2023
Originalsprache: Englisch
384 Seiten, gebunden
EAN 978-3328603009