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Clive Hamilton, Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung

Chinas Strategie für den Wiederaufstieg zur Weltmacht

"Die universellen Menschenrechte, die demokratische Entscheidungsfindung und die Rechtsstaatlichkeit haben mächtige Feinde, und der vermutlich bedrohlichste dieser Feinde ist China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Die KPCh verfolgt ein ambitioniertes, gut geplantes Programm zur weltweiten Einflussnahme und Einmischung und kann gewaltige wirtschaftliche und technologische Ressourcen einsetzen, um ihr Vorhaben zu verwirklichen." Und etwas weiter: "Gestützt auf seine gewaltige wirtschaftliche Macht, übt China diplomatischen Druck aus, wendet Überredungskunst an, betreibt Einheitsfront-Politik und »Freundschaftsarbeit« und manipuliert Medien, Denkfabriken und Universitäten, wobei diese Taktiken einander überschneiden und gegenseitig verstärken."

In ihrem Buch beschreiben der Australier Clive Hamilton, Professor für Öffentliche Ethik an der Universität von Canberra, Autor des Bestsellers "Silent Invasion. China`s Influence in Australia" und weltweit gefragter Experte für Chinas außenpolitische Ambitionen und Strategien, sowie die deutsche China-Expertin Mareike Ohlberg, welche bis Ende April 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin des international angesehenen Berliner China-Thinktank MERICS (Mercator Institute for China Studies) tätig war und danach als Senior Fellow in das Asien-Programm des German Marshall Funds wechselte, in bisher nicht bekannter Präzision die Ziele der KPCh und untersuchen akribisch und anhand von vielen Fakten Pekings globalen Machtanspruch. Dabei begrenzen die Autoren ihre Analyse weitgehend auf Nordamerika und Europa, d. h. das spannende Thema, wie China derzeit auch den Süden dieser Welt "erobert", wurde aus Kapazitätsgründen leider ausgeklammert.

Wiederholt betonen die Verfasser, dass man zwischen China bzw. dem chinesischen Volk und der KPCh unterscheiden müsse, um zu begreifen, "… warum der Wettbewerb zwischen China und dem Westen kein »Zusammenstoß zwischen Zivilisationen« ist, wie mancherorts behauptet wird. Wir haben es nicht mit einem fremdartigen konfuzianischen »Wesen« zu tun, sondern mit einem autoritären Regime, mit einer leninistischen Partei samt Zentralkomitee, Politbüro und Generalsekretär, die über gewaltige wirtschaftliche, technologische und militärische Ressourcen verfügt." Zweifelsohne hat China innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwung genommen und sich als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt zu einer politisch-ökonomisch-militärischen Großmacht entwickelt. Lange Zeit haben westliche Beobachter erwartet, dass sich das Land mit zunehmendem Wohlstand demokratisieren würde. Doch das Gegenteil ist eingetreten: Während noch Deng Xiaoping, der Gründer des modernen Chinas, auf wirtschaftlichem Gebiet für Lockerungen und weniger Zentralismus eintrat und die Weisung ausgab, international zurückhaltend aufzutreten, wird das Land nach Ansicht der Verfasser unter der Führung des amtierenden Staats- und Parteichefs Xi Jinping immer aggressiver und verfolgt seine ehrgeizigen Ambitionen als globale Gestaltungsmacht und Großmacht in Asien auf mehreren Ebenen wie Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, Kultur und politische Eliten.

Das Autorenduo postuliert zugleich, dass sich China momentan in einer noch relativ schwachen Position im Vergleich zu den USA sieht, das überall Bündnisse unterhält. Die KPCh will die Welt durch eine langfristige Umgestaltung der Allianzen so ändern, dass die derzeitigen Partner der USA in einem ersten Schritt dazu gebracht werden, sich neutral zu verhalten, um sich langfristig auf die Seite Chinas zu stellen. Hierzu setzt China vor allem auf bilaterale Abkommen, in denen es in der Regel der stärkere Partner ist. Das wichtigste Instrument zur geopolitischen und wirtschaftlichen Einflussnahme Chinas ist aus Sicht der Verfasser das Infrastrukturprogramm »Belt and Road Initiative« (Neue Seidenstraße), das nicht nur vielen Staaten, die unter Kapitalmangel leiden, hilft, dringend benötigte Investitionen zu errichten und zu finanzieren, sondern auch mit dem langfristigen Plan verbunden ist, strategischen Druck aufzubauen, Abhängigkeiten herzustellen und Einflussnahme sicherzustellen. Chinesische Staatsbetriebe und mit dem Staat verbundene Unternehmen investieren in Eurasien, Indochina und Südostasien in Straßen, Häfen, Flughäfen, Bahnlinien Energienetze und Dämme. In Europa besitzen chinesische Unternehmen mittlerweile Flughäfen, Häfen und Windparks in neun Ländern. Aber auch einzelne Unternehmen wie Huawei, der weltgrößte Hersteller von Telekommunikationsausrüstung, sind ausgezeichnete Anschauungsbeispiele dafür, "… wie die KPCh Spionage, Diebstahl von geistigem Eigentum und Beeinflussungsoperationen miteinander verschmilzt."

Hinzu kommt, dass viele westliche Unternehmen in China hohe Umsätze machen oder erwarten und sich infolgedessen die KPCh die Unterstützung einflussreicher Lobbygruppen sichern kann. "Wenige Hinweise chinesischer Parteikader zum Zustand einer Beziehung genügen normalerweise, um Wirtschaftsverbände oder Milliardäre dazu zu bewegen, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, damit diese nichts tun, um Beijing zu verärgern." Diese als "yi shang bi zheng" bezeichnete Taktik (wörtlich: "die Wirtschaft einsetzen, um die Regierung unter Druck zu setzen") belegen die Autoren durch typische Beispiele und demonstrieren, wie westliche Eliten zum Kotau gezwungen werden oder diese Prostration sogar noch freiwillig vollführen.

Laut den beiden Verfassern geht jedoch das Programm zur globalen Einflussnahme weit über das Seidenstraßen-Narrativ und die sonstigen wirtschaftspolitischen Instrumente hinaus. Hamilton und Ohlberg zeigen auch auf, welche "Waffen" über die gesamte Bandbreite von Politik und Gesellschaft eingesetzt werden und enthüllen, wie politische Eliten in den USA und in Europa gezielt manipuliert, infiltriert bzw. unterwandert und wie die etwa 60 Millionen Auslandschinesen ("chinesische Diaspora") "mobilisiert" werden. Vor allem aber untersuchen sie, wie auf Wissenschaft und Forschung, Kulturwelt und Medien zielgerichteter Einfluss genommen wird, etwa durch Aufbau von finanziellen Abhängigkeiten kultureller Institutionen und Universitäten, welche dann mehr oder weniger sublim als Faustpfand eingesetzt werden bis hin zu einer breiten Palette von Repressalien, einschließlich Einschüchterungen, Schikanen und Cyberattacken.

Abschließend widmen sich die Autoren der Frage, wie der Westen auf all die analysierten Bedrohungen für die individuellen Freiheits- und Menschenrechte reagieren sollte. "Der Westen muss aktiv eine Verteidigungsstrategie entwickeln, die deutlich über Absichtserklärungen und Wunschdenken hinausgeht." Während andere China-Kenner, wie etwa Wolfram Elsner die Auffassung vertreten, dass China "kritische Solidarität" verdiene, Theo Sommer und Wolf D. Hartmann eher auf Kooperation und eine Politik "ohne Illusion aber auch ohne Obsession" setzen und Zak Dychtwald ein faszinierendes Porträt von der Generation Y und den Millenials in China zeichnet, welche den Wandel des Landes zu einer modernen innovativen Gesellschaft verkörpern, betonen Hamilton und Ohlberg die Notwendigkeit eines gemeinsamen starken Widerstands der demokratischen Länder in aller Welt gegen die Einflussnahme, Einmischung und Einschüchterungsversuche der KPCh.

Das Werk enthält eine eindrucksvolle Analyse der Strategie Chinas auf seinem Weg zu einem umfassenden Wiederaufstieg zur Weltmacht und zugleich eine schonungslose Demaskierung der vielfältigen weltweiten Aktivitäten der KPCh. Das Buch zeichnet sich durch eine hohe Dichte an Informationen aus, ohne jedoch den Leser zu überfordern und wird durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat, einschließlich Glossar und Abkürzungsverzeichnis, ergänzt, um eine tiefere Auseinandersetzung mit der Materie zu ermöglichen. Ob und inwieweit man China und der KPCh tatsächlich keinerlei Potenzial auf Besserung zugestehen sollte, soll hier offenbleiben. Der Rezensent kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass manche der Analysen von Hamilton und Ohlberg einseitig bzw. allzu blauäugig ausgefallen sind, d. h. es sollte – als partes pro toto – nicht verschwiegen werden, dass nicht nur die USA, sondern auch andere westliche Demokratien zu unlauteren Vereinnahmungsversuchen greifen und vermutlich mancher Nachrichtendienst auch westlicher Mächte selbst vor Industriespionage, Cyberattacken, etc. nicht haltmacht.

Alles in allem kann das Werk – nicht zuletzt angesichts der jüngsten Vorgänge in Hongkong und mit Blick auf die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den USA und China an der "Wirtschafts- bzw. IT-Front" – allen politisch Interessierten, insbesondere aber den Akteuren in der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien zur Lektüre bestens empfohlen werden.


von Bernd W. Müller-Hedrich - 06. September 2020
Die lautlose Eroberung
Clive Hamilton
Mareike Ohlberg
Stephan Gebauer (Übersetzung)
Die lautlose Eroberung

Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet
DVA 2020
Originalsprache: Englisch
496 Seiten, gebunden
EAN 978-3421048639