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Ulrike Draesner: Nibelungen. Heimsuchung

Nibelungen - neu gelungen!

"Immer wieder vergesse ich" ist der Stehsatz, der im Schlusskapitel die verschiedenen Inhalte des Nibelungenliedes in seine Bestandteile zerlegt. "Immer wieder vergesse ich, was in ihm geschieht", schreibt die Autorin und analysiert das berühmte Lied u. a. als Betrugsroman. "Wird ein Mensch gedemütigt, wächst sein Gehirn", bemerkt sie, denn "es wächst in dem Teil, den man Erinnerung nennt". Ein Epos ist das Nibelungenlied, sicherlich, aber auch ein Betrugsroman (zum zweiten), wozu die Mündlichkeit des Erzählens beigetragen haben könnte, vermutet die Autorin. "Entscheidender aber ist: im Modus von Wiederholungen erklären wir uns die Welt." Ein Sivritroman, ein Kriemhieltroman, aber auch ein Tränenroman sei das Nibelungenlied, "geweint werde in der mittelalterlichen Epik reichlich, und, wie man manchmal meinen möchte, keineswegs ungern. Männer wie Frauen vergießen Tränen."

Der Held: eine prekäre Figur

Aber auch ein Exotikroman sei das Nibelungenlied, denn die Mann-Frau-Rollen würden immer wieder verkehrt werden, was doch sehr ungewöhnlich ist. Sie hätten kein Ich, diese Figuren im Nibelungenlied, und müssten nicht für sich einstehen. Wenn Sivrit so kräftig wie zwölf Recken ist, dann ist er zwölf Recken. "Das Individuum wird kollektiv". Natürlich ist das Nibelungenlied auch ein Liebesroman, ein Staatsroman und ein Ordnungsroman. "Männer bevormunden Frauen, betrügen sie, bringen sie um ihr Erbe. Männer locken einander in Fallen, Frauen tun es mit ihren Mitteln nach." Ordnung sei eben auf Eindeutigkeit angewiesen, aber Ordnungen, die versuchten in ihrem Webmuster Fehler zu verstecken, sind leider instabil. "Das Nibelungenlied, in dem so eifrig vom Mut und der Kühnheit der Recken die Rede ist, zeigt sich, blickt man auf seine Handlungslogik, als ein Epos, das von Angst und Absicherungsmaßnahmen handelt. Der Held ist eine prekäre Figur: bedroht von Frauen, Geldmangel, Verrat - und eigenem Versagen im Kampf oder der Gesinnung."

Ein wahrer Schatz von einem Schatz

Das Nibelungenlied ist auch ein Schatzroman. Dieser wird eins mit sich selbst, indem er verschwindet. Das Nibelungenlied ist auch ein Wasserroman und ein Kindermordroman, ein Nagelroman. "Das Lied da nach den Nibelungen heißt, ist ein Roman über Gedächtnis und die Formung von Willen. Bevorzugtes Material: Die Frauen." Noch radikaler gerate das Reisebild für Frauen, Nibelungenlied als Migrationsroman: "Sie fahren nicht hin und her; ihre Reisen kennen in der Regel nur eine Richtung: vom Haus der Herkunftsfamilie ins Haus des Ehemannes." Im Kern des Nibelungenliedes stehe "eine misslungene Reise", schreibt Draesner, aufgrund des Betruges anderer bleibe Brünhilt in einem imaginären Raum gefangen. Er liegt zwischen Island und Worms, zwischen Vergangenheit und Jetzt. Beruhigen lasse er sich nicht.


von Juergen Weber - 05. November 2016
Nibelungen. Heimsuchung
Ulrike Draesner
Carl Otto Czeschka (Illustration)
Nibelungen. Heimsuchung

Reclam 2016
130 Seiten, gebunden
EAN 978-3150110058