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Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes

Traurigkeit und Wehmut

Der Reichtum des sprachschöpferischen Moments ist Olga Martynova zu eigen. Sie schreibt Erzählungen, Essays, Aphorismen und Gedichte, über Vergänglichkeit und Trauer, von Wehmut und metaphysischen Ahnungen gekennzeichnet, in denen Verse wie scheue Gebete nach droben aufzusteigen scheinen. Sie findet auch geheimnisvolle Sprachbilder, die dem Leser angeboten werden, zur Betrachtung und zum Nachdenken. Immer wieder taucht schemenhaft, doch nicht konturenlos ihr schmerzlich vermisster, verstorbenen Ehemann Oleg Jurjew zwischen den Zeilen auf.

Ans Schwarze Meer denkt Martynova zurück, als es in den 1980er Jahren "nach Brandung und Jod" roch, in einer Zeit, der frühere Kriege erinnert wurden, aber jede "Ahnung von künftigen Kriegen" fehlte. Nun tobt der Krieg seit Jahren schon in der Ukraine. Doch damals? "Mondschnecken lecken den schiefen Himmel vom Fenster ab, / Schicht für Schicht, ohne Ahnung." So wie es die Schnecken tun, so ahnungslos ist auch das lyrische Ich und weiß nicht, wie glücklich es darüber doch sein könnte. Später, wieder eine Reminiszenz, spielt dieses Ich Tennis gegen einen "unsichtbaren Gegner" – gegen den fernen Oleg:

 

"Die Art seiner Schläge verriet,
dass er lieber selbst verlöre,
als mich verlieren zu lassen."

 

Seine Gegenwart ist wirklich, ebenso seine Ferne. Der "unsichtbare Spieler" kehrt nicht zurück, aber die Dichterin schreibt weiter, kann nicht anders, muss dies ganz einfach tun. Doch ihre Lyrik ist keine Verarbeitung von Trauer, denn: "Mich hat die Hoffnung verlassen, dass ich dich je wiedersehe." Doch eine gewisse religiöse Musikalität spricht aus Martynovas Versen über den "lieben Gott":

 

"der liebe Gott ist eine ziemlich große Sanduhr,
die Erde steht auf dem Uhrsand,
den er aus dem Ursand entsandt,
der Sand schmerzt und schmilzt
ins Stundenglas. in hora mortis.

der liebe Gott ist eine kleine Bresche
mit allerlei Frisur,
das wissen alle.

der liebe Gott in seinem Gnadenzorn
ist eine Bananenschale."

 

Wer dieses Gedicht liest, beginnt vielleicht zu schmunzeln. Gott – eine "Bananenschale"? Höchst unfromme Gedanken scheinen hier artikuliert zu werden, aber das lyrische Ich bewegt sich nicht in gottloser Heiterkeit, sondern ist wie eingehüllt in den Realismus der Trauer, stellt die Vergänglichkeit fest, die schwindende Lebenszeit, sieht gewissermaßen tausend Gottesbilder und doch nicht den einen Gott, der lieben und geliebt sein möchte. Martynovas gedankenvolle Lyrik streift die Gottesfrage, sehnsüchtig hofft die Dichterin auf Antwort, die ihr doch versagt und verwehrt bleibt, ebenso wie auch nur ein Gran Trost. Das Leben vergeht, und das Schweigen bleibt. Es gebe nur "Buchstabenbruch und -staub", aber "niemand" und "nichts, was plausibel Gott denken ließe, / und fast niemand, der sich darum scheren würde …"

Dieser schmale Gedichtband beherbergt unsagbar viel Traurigkeit einer Dichterin, die untröstlich bleibt, dichtet, doch ihre Gedichte werden "nie fertig", können dies nicht werden. Ein abgeschlossenes Gedicht, so schreibt sie in "Abschied vom Buch", wird aber manchmal vom Leser aufs Neue zum Leben erweckt:

 

"… ein Gedicht ist nie fertig,
wenn es zum endgültigen Text wird,
wird ein Falter, der eben noch flatterte,
zu seinem eigenen Abbild,
einem Papierbeschwerer.
Beim Lesen lebt er wieder.
Nicht immer. Manchmal. Selten."

 

Olga Martynova hat kummervolle Dichtungen verfasst, in denen ganz zaghaft nur eine Art von Hoffnung ausgedrückt wird, ganz am Schluss, wenn Leser die Dichtungen wieder ins Leben zurückrufen. Die Dichterin schreibt, wie ihr zumute ist. Sie wünscht sich verständnisvolle Leser voller Mitgefühl, so scheint es. Ihre traurigen Gedichte verdienen unsere Sympathie.


von Thorsten Paprotny - 09. April 2024
Such nach dem Namen des Windes
Olga Martynova
Such nach dem Namen des Windes

Gedichte
Fischer 2024
130 Seiten, gebunden
EAN 978-3103975208