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Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem

Schuld sind immer die Juden

Im November 1918 setzte in Deutschland die Kaiserdämmerung ein. Doch nicht nur Wilhelm II. nahm seine Krone. In 22 Fürstentümern, die sich 1871 zur stolzen Reichsgründung zusammengefunden hatten, verwaisten die Throne. Bayern war das erste Land, das seinen Monarchen davonjagte. Am 7. November, zwei Tage vor der doppelten Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und, Stunden später, den Spartakisten Karl Liebknecht erklärte in München der unabhängige Sozialdemokrat Kurt Eisner Bayern zum Freistaat.

Es folgten turbulente Monate, in denen Bayern immer weiter nach links rückte und mehrere Regierungen erlebte. In keiner von ihnen spielte die SPD eine Rolle. Dabei fehlte es den damals schon weichgespülten und konsenssüchtigen Sozialdemokraten nicht an der Unterstützung der Wähler. Ihnen fehlte schlichtweg der politische Mut.

Letzteren bewies Eisner und bezahlte dafür mit dem Leben. Am 21. Februar 1919 - Bayerns Ministerpräsident war gerade auf dem Weg zum Landtag, um nach der von seiner USPD verlorenen Wahl den Rücktritt einzureichen - trafen ihn die tödlichen Kugeln, abgefeuert von einem Rechtsextremen. Anton Graf von Arco auf Valley rechtfertigte seine Tat mit den Worten: "Ich hasse den Bolschewismus, ich bin und denke deutsch, ich hasse die Juden (…). Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, (…) er ist ein Landesverräter."

Kurz nach dem Attentat nimmt Victor Klemperer in München seine Korrespondententätigkeit für die Leipziger Neueste Nachrichten auf. Nicht alle seine Berichte finden den Weg in Sachsens Metropole: Zu chaotisch ist die Lage, zu anfällig der Postdienst, zu häufig die Nachrichtenverbindung durch militärische Kampfhandlungen unterbrochen. Manche Artikel bleiben unveröffentlicht, andere werden später im Rückblick durch den Autor vervollständigt. Da befindet sich Klemperer längst in äußerster Bedrängnis durch die mittlerweile an die Macht gekommenen Nationalsozialisten.

Klemperer erlebt aus unmittelbarer Nähe, wie Bayern in den Bürgerkrieg schlittert. Die gewählte Regierung unter dem neuen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD), unterstützt vom linken Bauernbund und den liberalen Demokraten, kann sich gegen die radikalen Gruppierungen, die den Rätegedanken über den Parlamentarismus stellen, nicht durchsetzen. In dieser Situation begeht Hoffmann einen unbegreiflichen Fehler: Er macht sich davon. Die komplette Regierung und später auch das Parlament zieht von München nach Bamberg um. In der kleinen Stadt in Oberfranken, ohne nennenswertes Industrieproletariat, herrscht keine revolutionäre Stimmung. Sie verfügt über einen Flugplatz, und Berlin ist auch nicht so furchtbar weit, sodass zur Not der Reichswehrminister Noske angekabelt werden kann, um seinem Parteigenossen Militär zur Hilfe zu schicken. Noch lehnt Hoffmann einen solchen Schritt ab.

In München amüsiert sich Klemperer über die immer bizarrer werdende Entwicklung. Dort rufen die Anarchisten um Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller die Bayerische Räterepublik aus. Ein Woche halten sie durch, dann folgt zunächst ein Putsch von rechts und tags darauf sofort wieder einer von links. Jetzt ist Bayern eine Sowjetrepublik nach russischem Vorbild. Auch in der neuen Regierung finden Landauer und Toller Platz, und Mühsam sieht ebenfalls keinen Grund, sich von ihr zu distanzieren. Klemperer ist hin- und hergerissen zwischen Tragik und Komik des politischen Alltags, den er beschreiben soll. Er "möchte immer weinen und lachen in einem", wie schon der Titel seines Revolutionstagebuchs verrät.

Es ist das Verdienst der Lektorin Nele Holdack, die Berichte Klemperers - die veröffentlichten und die zunächst untergegangenen, samt den Ergänzungen aus der Retrospektive - komplettiert und in einen chronologischen Zusammenhang gebracht zu haben. Der originäre Charakter von Klemperers Reportagen wird dadurch keineswegs verfälscht. Im Gegenteil: Die zusätzliche Perspektive ex post zeigt, wie sich auch Klemperer im Verlauf der bayerischen Ereignisse verwandelt. Das Lachen weicht immer mehr einem Weinen, und am Ende, im Rückblick, erkennt der Autor, welch verhängnisvolle Entwicklung damals in München ihren Anfang genommen hat.

Klemperer ist Jude, wie Eisner, wie Toller, wie Mühsam, wie Landauer. Er wird Zeuge, wie oppositionelle Politiker und brave Bürger zunächst auf Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten schimpfen und später, als sich die Lage trotz des Einmarschs aus Soldaten der Reichswehr und Angehörigen von Freikorps gebildeter so genannter weißer Truppen - Ministerpräsident Hoffmann war nicht standhaft geblieben und hatte Noske in Berlin um Hilfe ersucht - nicht zum Guten wenden will, rasch einen neuen Sündenbock finden. Die Juden sind an allem schuld, heißt es deutlich vernehmbar. Solche Parolen machen Klemperer (und Eisner und Toller und Mühsam und Landauer) erst bewusst, dass er Jude ist. Bislang hat die Religion in seinem Leben keine Rolle gespielt. Klemperer ist assimiliert, sieht sich als Deutscher - als was soll er sich sonst sehen? - bekommt aber ein großes Problem: Er wird zum Juden gemacht; bald ist er nur noch Jude.

In München wird Klemperer weder antisemitisch beschimpft noch drangsaliert, aber, wie er im Rückblick bekennt, "bedrückt und isoliert fühlte ich mich doch." Anderen Juden, die eine wichtige Rolle in der bayerischen Politik spielen, ergeht es schlimmer. Eisner wird erschossen, Landauer zu Tode geprügelt, Toller kann sich verstecken und kommt später mit Festungshaft davon, wie auch Mühsam (der erst 1934 gewaltsam zu Tode kommt, als Insasse eines Konzentrationslagers). In den ersten Maitagen des Jahres 1919 ist das Kapitel Revolution und Räterepublik für Bayern beendet. Reaktionäre Freikorps, in deren Reihen bereits spätere Nazigrößen wie Ernst Röhm, Heinrich Himmler und Rudolf Heß stehen, marschieren in München ein und stoßen auf heftigen Widerstand. Es gibt über sechshundert Tote, andere Quellen sprechen von tausend Opfern. Die meisten, darunter zahlreiche Zivilisten, sterben durch willkürliche Erschießungen.

Die Regierung Hoffmann wird reinstalliert und kehrt im Spätsommer von Bamberg nach München zurück. Im Frühjahr darauf spült sie ein Putsch des rechtsgerichteten Gustav Ritter von Kahr hinweg.

Klemperers Berichte, unterhaltsam, häufig sogar spöttisch geschrieben, schildern die Münchner und bayerischen Ereignisse aus Sicht eines liberalen Demokraten, der um die soeben erst errungenen politischen Freiheiten ebenso fürchtet wie er die extreme Linke hasst, die er für das entstandene Chaos verantwortlich macht. Umso erstaunlicher ist die spätere Wandlung des Autors zum Kommunisten. Dazwischen liegt die Ära des Nationalsozialismus. Wie rechter Extremismus in der experimentierfreudigen Frühphase der Weimarer Republik Wurzeln schlägt und sich rasch ausbreitet, davon gibt Klemperers Revolutionstagebuch lebhaft Anschauung. Erst nach jenen blutigen Maitagen erwarb sich München jenes fragwürdige Prädikat, das der Stadt während der gesamten braunen Diktatur anhängen sollte: Hauptstadt der Bewegung.


von Ralf Höller - 07. November 2015
Man möchte immer weinen und lachen in einem
Victor Klemperer
Man möchte immer weinen und lachen in einem

Revolutionstagebuch 1919
Aufbau 2015
263 Seiten, gebunden
EAN 978-3351035983