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Alexander Kissler: Widerworte

Unzeitgemäße Betrachtungen

Psychische Erschöpfungszustände – resultierend aus Arbeitsbelastung, Beziehungsstress, Leistungsdruck und Überforderung – nehmen seit Jahrzehnten kontinuierlich zu. Auch die gar nicht so schöne neue Welt der Digitalisierung vermehrt das vielstimmige und doch kollektive Stöhnen ungemein. Auf Aspekte des konsequenten Wortmissbrauchs, der Sprachschändung und -verhunzung weist der Berliner Publizist Alexander Kissler hin. Ein neues Funktionärsdeutsch breitet sich seit einigen Jahren aus: Wir schaffen das. Wir sind Vielfalt. Wir können Aufbruch. Wir krempeln jetzt die Ärmel hoch … Der eine oder andere hört das und denkt still für sich: Wir? Ich nicht. Vielleicht denken einige: Wir möchten das alle nicht mehr mit anhören. Legt Kissler darum eine eloquente, dezidiert politische Analyse vor, ebenso eigensinnig wie eigenständig? Eine beherzte Bloßstellung und Entlarvung der postmodernen "Sprache der Verschleierung" (Karl Jaspers) erfolgt – engagiert und scharfzüngig betrieben.

Die Sprachkritik verfügt über eine lange Geschichte. Schon der athenische Philosoph Platon war bestrebt, die Rhetorik der machtbewussten Sophisten philosophisch versiert, literarisch wertvoll und geschmückt mit Metaphern zu entzaubern. Der Philosoph klärte auf, aber es änderte sich nichts. Es scheint, als müsste jede Generation neu damit anfangen, den Gebrauchswert von kursierenden Begriffen akribisch zu untersuchen. Kissler meint: "Die bewährte Phrase beendet jenen Dialog, für den sie wirbt." Er bezeichnet schale, stumpfe Redewendungen als "verbalen Treibsand": "Die Phrase ist allgegenwärtig, weil sie konkurrenzlos bequem eingesetzt werden kann. Sie täuscht die Tiefe eines Gedankens vor, den ein anderer gedacht hat. Sie simuliert Originalität. Sie inszeniert Individualität. Sie bedürfte der Auslegung, die sie durch ihren rhetorischen Gestus und ihren Kontext gerade verhindern will. Sie gibt sich differenziert und ist ein einziges Basta. Sie klingt nach individueller Sorge und ist ein kollektives Herrschaftsinstrument." Auch das mag stimmen, aber die Sprachwendungen, die er nachfolgend herausgreift, zeigen eher das Gegenteil: Sie sind stumpf, hohl und fade. Ein bekümmert geäußertes "Das ist alternativlos!" klingt weder wie das Resultat eines langen Reflexionsprozesses noch wie eine Einladung zu einem fruchtlosen Dialog, sondern eher wie ein schulmeisterliches Fazit. Nach dem Störfall in Fukushima im Erdbebengebiet Japan wurde die Schließung aller deutschen Kernkraftwerke umgehend verfügt. Das sei "alternativlos", hieß es damals.

Kissler erwähnt, dass ständig die Rückkehr zur Sachpolitik gefordert werde. Manche möchten die Tatsachen für sich sprechen lassen. Aber die Tatsachen sprechen oft gar nicht, denn wie sollten sie sprechen können? Tatsachen können übersehen werden, absichtlich oder nicht, in Vergessenheit geraten oder geleugnet werden, vielleicht in der Pippi-Langstrumpf-Perspektive: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Philosophisch lässt sich eine solche Sicht auf die Welt als Konstruktivismus bezeichnen. Eine spezifische Wahrnehmung von Realität erfolgt aus einer dominant subjektiven Perspektive, die zwar auf die Wirklichkeit bezogen ist, aber trotzdem nur ein theoretisches Gespinst modelliert. Kissler benennt exemplarisch eine präsidiale Verlautbarung: "Heimat gibt es auch im Plural." Das klingt so gravitätisch wie bedeutend. Es eröffnet den weiten Horizont namens Plural. Der Autor möchte zeigen, dass die "Wohlfühloase wechselseitiger Anerkennung" wie die "produktive Diskursgemeinschaft der gerade an einem Ort Versammelten" unrealistisch und weltfremd ist. Die Rede von "multiplen Identitäten" klingt tatsächlich nach luftiger Weltweisheit. Schon Ernie und Bert verkauften Luft in Tüten. Was überhaupt ist Heimat? Die alltägliche Erfahrung zeigt, dass schon die nächste Nachbarschaft problematisch sein kann, ungeachtet von Unterschieden jeglicher Art – schon der Musikgeschmack kann für unüberbrückbare Gegensätze und Dissens suchen. Kissler spricht hingegen von der großen Politik der kleinen Dinge: "Die große Heimatlüge erhebt ihr Haupt, wo immer der Eindruck erweckt wird, beim Betreten eines neuen Landes öffne sich augenblicklich eine neue Heimat. … Heimat verlangt Bekenntnis, geht aber im Bekenntnis nicht auf. Sie ist ein Ort, der alles Örtliche übersteigt, eine Kindheit, die erwachsen werden muss, eine Reife, die es ohne Wurzeln im inneren Kind nicht gäbe. Heimat muss sein, damit das Ich werden kann. Heimaten sind angewandte Schizophrenien: theoretisch interessant, praktisch eine Katastrophe." Der Begriff erzählt von Beziehungen, weckt Gefühle. Mancher entflieht der eigenen Familie, weil er es in dem Geflecht nicht mehr aushält. Ein anderer möchte das Haus der Eltern nie verlassen. Über Heimat lässt sich disputieren und philosophieren. Der vielfarbige Begriff wird, so zeigt Kissler, politisch okkupiert und zugeschnitten, mit irgendwelchen Absichten neu herausgeputzt. Die neue Rede vom "Wir" bildet weder eine Gemeinschaft ab noch stiftet diese Identität – was immer das auch sein mag, ein philosophisches Problem in jedem Fall.

Der ostentative "Lobpreis des Vielfältigen und Offenen" könne in ein aggressives Gegenteil sich verkehren: "Quantitative Vielheit entwickelt sich nicht von selbst zu qualitativer Vielfalt. Vielfalt ist reflektierte und begrenzte Vielheit. … Wenn das Bunte nicht im unverbundenen Nebeneinander schweigender Teilmengen besteht, nicht im institutionalisierten Desinteresse, sondern in gemeinsamer Stufung." Vom Sinn der Vielfalt sprechen prominente Institutionen, Unternehmen und Staatsoberhäupter wie Kirchenfürsten: "Nur weil Menschen sich im selben Raum befinden, und sei es ein geografisch großzügig bemessener, entwickeln sie kein Gruppen-Wir. Ohne Geschichte und Identität bleibt das Bunte nur eine unverbundene Mehrzahl. Und wo das Bunte von einer spätmodernen Selbstverständlichkeit zur Staatsideologie umgebogen wird, triumphiert das Einfarbige. Die Einfältigen freut’s." Die "Corporate Identity" bildet sich auch nicht über Kaffeetassen oder Logos.

Alexander Kissler zitiert teilweise ausgiebig – insbesondere auch Mitteilungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel –, um das "protestantische Pathos der Pfarrerstochter" aufzuweisen. Er schreibt von Persönlichkeiten, die in der Welt sind, aber gewissermaßen doch jenseits dieser zu leben scheinen: "Das große Wir soll die vielen kleinen Ichs da unten umschmelzen – unter der Regentschaft des großen Super-Ichs, das die Verschmelzungsorder ausgibt." Berechtigt schreibt er aber auch, dass der appellative Charakter dieses unklaren Begriffs "Wir" die erwünschte Gemeinschaft nicht hervorbringen kann. Vielleicht verkehrt sich das beschworene "Wir" in ein ganz anderes "Wir", scheint mir: Wir sind vieler Allgemeinplätze so müde. Aber tun sie uns wirklich noch weh? Viele von uns hören auch nicht mehr zu, und einige, in Deutschland und anderswo, lassen einfach den lieben Gott einen guten Mann sein. Der Aufstand bleibt aus – oder, perspektivisch gesehen, vielleicht doch nicht? Niemand weiß das. Die "Moralvirtuosen der Netzwerkgesellschaft" führen, so Kissler, das Wort und sprechen vom "humanitären Imperativ". Dieser sei das "zentrale Tool", um den "globalen Geist des Helfens" zu einer "universalen Ethik des Exekutiven" zu transformieren. Mit diesem "Herrschaftsinstrument der Regierenden", so mutmaßt der Autor, solle etwas "fundamental Neues" geschaffen werden.

Alexander Kissler übt eine philosophische Kritik der Allgemeinplätze – robust, scharfzüngig und streitbar. Er bietet ernüchternde Reflexionen zu dem postmodernen Identitätshokuspokus und versetzt seine Betrachtungen mit politischen Invektiven. Kissler verteidigt ausdrücklich die Würde des Menschen. Die Art und Weise, in der er sich pointiert zu Wort meldet, zeigt, dass dieser Autor eine nervös anmutende Sphäre wachsam beobachtet. Der konservative US-amerikanische Medienkritiker Neil Postman schrieb vor langer Zeit ein seinerzeit auch in Europa erfolgreiches Buch, es hieß: "Wir amüsieren uns zu Tode". Heute, knapp vierzig Jahre später, liefert Alexander Kissler einen vergleichbaren Traktat. Dieser Autor ist ganz und gar nicht amüsiert. Er zeigt die Abgründe der politischen Provinzbühnen auf, argumentiert entschlossen, auch polemisch, ja mit echtem Schneid. Kisslers robuste Widerworte reizen auch zum Disput. Etliche seiner Meinungen und Gedanken fordern heraus. Widerspruch ist möglich, sogar nötig, vielleicht sogar gewünscht und hilfreich. Man kann über seine Thesen vorzüglich und kontrovers streiten. Ganz gewiss: Kisslers Buch langweilt nicht. Dieser Autor provoziert, absichtlich, bewusst und entschlossen. Der Streit um die Sache ist das Lebenselixier der Demokratie. Vielleicht heißt sein Buch darum auch "Widerworte" und nicht: "Wieder nur Worte".


von Thorsten Paprotny - 24. März 2019
Widerworte
Alexander Kissler
Widerworte

Warum mit Phrasen Schluss sein muss
Gütersloher Verlagshaus 2019
208 Seiten, gebunden
EAN 978-3579014746