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Navid Kermani: Ungläubiges Staunen

Die Schönheit des Glaubens – Navid Kermanis Wahrnehmungen des Christentums

Navid Kermani, Orientalist und Erzähler, 1967 in Siegen als Sohn iranischer Eltern geboren, berichtet von kunstgeschichtlichen Reisewegen, die neue Perspektiven schenken und dezente, diskrete Annäherungen bieten – an die Welt des christlichen Glaubens, insbesondere an den Katholizismus, an seine liturgischen Formen, an seine leuchtenden Farben, an die Gestalten wie Ausdrucksweisen der Kontemplation. Der Autor, ein religiös musikalischer Zeitgenosse, promovierte 1999 mit einer Studie "Gott ist schön" – über das ästhetische Erleben des Koran. Kermani spricht von Begegnungen, leise, behutsam, kenntnisreich und sorgfältig. Dem Schriftsteller gelingt es, das Gespräch zu suchen, sensibel wahrzunehmen und Impressionen, auch über die Schwebezustände zwischen Glauben und Kunst, mitzuteilen.

Besonders im deutschen Sprachraum kursieren kirchliche Aufbruchsmanifeste, die so inspirierend sind wie Vorschläge für einen Strukturwandel der Europäischen Union. Der beharrliche Wunsch nach Reformen und Reformationen geht oft einher mit einem schleichende Glaubensverlust. Doch Kirchen sind – trotz aller Kunstschätze, die sie beherbergen – keine Museen für abendländische Kulturgeschichte, auch wenn manche Kathedralen längst zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden sind. Religion bietet Räume, öffnet Horizonte, und darum berichtet Navid Kermani auch von Momenten der Bewunderung und Verstörung. In Rom sei er "neidisch auf das Christentum" geworden, trotz der zumindest äußerlich allgegenwärtigen "Demonstration von Macht" in den Kirchen. Eine gewisse Sympathie für die "lateinische Messe" gesteht er zu, vor allem "aus ästhetischen Gründen". Er bekennt sich zur "Faszination für die beispiellose Kontinuität einer Institution, die aus Gottes Angehörigen eine Gemeinschaft bildete": "Nur ihr ist das auf Dauer gelungen. Wer weiß, vielleicht wäre auch mir eines Tages das Wunder erschienen, das dieses prächtigste aller Himmelsgebäude hervorgebracht hat. So halte ich die Möglichkeit zwar weiterhin für falsch – aber erkenne, mehr noch: spüre, warum das Christentum eine Möglichkeit ist." Eine Möglichkeit, zu der sich Navid Kermani, ungläubig staunend, nicht bekennen möchte. Von dieser Glaubensmöglichkeit berichtet die Kunst, auch der Gottesdienst? Benedikt XVI., so schreibt er, und der unbekannte "katholische Freund" seien vielleicht "zu sehr von der Schönheit gebannt", im Christentum und in der Gestalt von Jesus Christus, so dass ihm scheint, dass sie das Hässliche nicht sehen: "Ich verstehe ihr Beharren, muß in einer Stadt wie Berlin nur einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst besuchen, um beizupflichten, wie sehr dem Christentum Schönheit heute fehlt. Armut allein macht keinen Gott groß." Vorstellbar ist, dass das bemüht Pädagogische, eine Art Religionsdidaktik im sakralen Raum, irritiert, die Religion ihrer Farbe, ihrer Schönheit beraubt. Doch könnte die Hilflosigkeit der Christen nicht auch Mitgefühl wecken? Kermani sieht im Glauben, in seinen Ritualen und Formen, ein Geschehnis und Geheimnis, das die Fassaden der Alltäglichkeit durchbricht, also ein Moment des Außerordentlichen. Mit dem Blick auf die Kunst gelingen ihm kleine Porträts über die "Sonderbarkeit" Jesu: "Auch in den Evangelien gehört er einer anderen, gleichsam einer zweiten Gegenwart an: Er ist auf Erden, er feiert mit allen Leuten, fällt nicht äußerlich auf – und ist doch im Innern so tief berührt worden, von Gott durchdrungen, daß er leuchtet, mögen es auch nur die Jünger, Künstler und Kinder von sieben Jahren an sehen." In dem Bild "Christi Abschied von seiner Mutter" wird für Kermani in Christus das "Wesen der Melancholie" gegenwärtig. Sodann werden Anschauungsweisen von Jesus vorgestellt, in denen Unterschiede zwischen dem Islam und dem Christentum vorgestellt werden: "Aber Gott, dem Jesus unter allen Menschen am ähnlichsten geworden ist, ist nicht nur Liebender. Zugleich ist Gott den Sufis, die ihre Texte mit erotischen Signalen spickten, Geliebter. Das ist Jesus nirgends im Islam, kann er nicht sein, da allenfalls die Vergöttlichung des Menschen angedeutet wird. Für die christlichen Mystiker hingegen, ob Männer, ob Frauen, die nach der Vereinigung mit dem menschgewordenen Gott strebten, versteht es sich beinah von selbst, Jesus als Geliebten erfahren zu wollen." Der Koran sage zudem, Jesus sei nicht gekreuzigt worden, sondern "entkommen". Kermani lehnt die Kreuzestheologie ab. Er berichtet: "Die Tochter früher in der Kirche zu wissen, wo sie als Grundschülerin gelegentlich die Fürbitte las, weil sie so gut lesen konnte und so eitel war, auf jeder Bühne stehen zu wollen, selbst wenn sie dafür eine Stunde früher aufstehen mußte – unterm Kreuz sie zu wissen, war unangenehm. Natürlich sagte ich nichts, schließlich ist man liberal. Eingegriffen habe ich nur, als die Kinder Hostien essen durften, gleich welchen Glaubens. Da wünschte ich mir, die Kirche wäre weniger liberal." Diesen Wunsch Kermanis können viele gläubige Christen heute gut verstehen. Wer soll eine Kirche ernst nehmen, die ihre Sakramente noch feiert, mit ihnen dann aber gedankenlos umgeht, so als ob sie Glückskekse verteilen würde?

Mit Blick auf ein Bild von Giovanni Bellini, den "Segnenden Christus", schreibt Navid Kermani, dass der Auferstandenen noch immer von den Spuren seines Leidens gezeichnet sei: "Nichts vergißt der Auferstandene dem Leben, nichts beschönigt er im Sterben. Um so tiefer fühlt er die Erlösung, daß er den Tod besiegt hat. Um so größer ist unsre Hoffnung: Besiegt werden kann der Tod." Ist das unsere Hoffnung? Wie anders, wie karg und trostlos scheint die Welt heute zu sein, in der anscheinend nicht mehr der Tod überwunden, sondern nur noch ein Corona-Virus besiegt und überwunden werden soll.

Mit Jesus, so Kermani, assoziieren die Sufis die "Epiphanie der göttlichen Schönheit". Diese Schönheit sei unabhängig davon, ob sie in einem männlichen oder weiblichen Körper erscheine: "Damit ist Jesus – und nur Jesus – mehr als ein Prophet oder Gesandter. In ihm ist Gott erschienen wie in einem Spiegel, oder genauer, weil Gott viele Erscheinungen hat und für jeden Menschen eine andere: Jesus steht für die Erscheinung Gottes im Menschen, für alle göttliche Schönheit, die auf Erden sehr wohl sichtbar sei."

Der Katholizismus sei "gerade keine oder nicht nur Volksfrömmigkeit" – oder doch nur ein "Glaubensgespinst"? Kermani scheint im Letzten auch nicht dem eigenen Zweifel zu glauben: "An Wunder glauben viele, wenn nicht die meisten Konfessionen, aber nur der Katholizismus weil er sich so vernünftig geordnet, wissenschaftlich gibt, erzeugt in mir jenes ungläubige Staunen, das Caravaggio dem Thomas ins Gesicht schrieb." Eine Art "Sog" beschreibt er, "selbst für einen Anders- oder Ungläubigen wie mich": "Nur vermittelte sich der Sog mir nie durch die Objekte, so prächtig auch immer, so wenig wie durch Räume, berückend schöne Kirchen, herrliche Altäre; ich erlebte ihn nur als Zeuge des Vorgangs selbst, des Ernstes und der Feierlichkeit, der Spannung vorher und des Friedens danach, erlebte ihn konkret wie einen Windhauch oder einen wärmenden Sonnenstrahl, obwohl ich es nicht glauben kann. Die Behälter sind nur Behälter. Wenn es die Menschen sind, die das Brot in Fleisch verwandeln, den Wein in Blut, können auch nur sie mich überzeugen." Auch der Anders- oder Ungläubige sei dankbar, "überhaupt einer Messe beiwohnen zu dürfen", mit gebotenem Abstand, "gewöhnlich in eine der letzten Reihen".

Von der Religionssensibilität wird in vielen Wissenschaften gesprochen, Dialoge über Religion finden statt, aber Offenheit für die Wirklichkeit des Glaubens und die Künste, die von ihr erzählen, finden wir selten. Navid Kermanis Buch ist darum einzigartig. Er möchte weder belehren noch bekehren. Also beschreibt er, was er sieht, erfährt und spürt. Über ein so schönes, kluges Buch wie dieses können wir als Leser nur dankbar sein – und staunen.


von Thorsten Paprotny - 12. Februar 2021
Ungläubiges Staunen
Navid Kermani
Ungläubiges Staunen

Über das Christentum
C.H.Beck 2020
303 Seiten, broschiert
EAN 978-3406757839