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Wanda Półtawska: Lernt einander lieben

Liebe und Verantwortung

Im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist die 2023 im Alter von 101 Jahren verstorbene Medizinerin und Psychiaterin Wanda Półtawska, Verfolgte des NS-Regimes und von 1941 bis 1945 inhaftiert im Konzentrationslager Ravensbrück, als Weggefährtin und Vertraute des späteren Papstes Johannes Pauls II. Sie selbst hat zahllose junge Menschen, Ehepaare und Familien behutsam, kundig und auch auf ihre Weise seelsorglich begleitet, die inmitten von verstörenden Zeitläuften und der Orientierungslosigkeit in der Moderne versuchten, die "wahre Liebe" zu entdecken, die jenseits aller Romantik und auch abseits der Fantasien der Traumfabrik Hollywood liegt. So fragt die polnische Autorin: Was ist Liebe?

Wanda Półtawskas Darlegungen wirken auf Zeitgenossen zunächst ausgesprochen konservativ und zeitkritisch. So spricht sie von Heiligkeit, von der Schönheit der Elternschaft. Zu den Formen der praktizierten Sexualkunde nimmt sie eine dezidiert kritische Haltung ein. Handelt es sich hier also um einen unaufgeklärten Standpunkt, den die polnische Ärztin vertritt? Wer sich aber den Schulunterricht vergegenwärtigt und die vielleicht gutgemeinten, für aufklärerisch angesehenen Unterrichtsmethoden im Gedächtnis hat, der mag sich an eine Erziehungspraxis und Bildungswelt erinnern, in der Sexualität auf Triebbefriedigung reduziert und als hedonistische Signatur der Zeit angesehen wurde. Im letzten und in diesem Jahrhundert wurde und wird nicht von aufrichtiger Liebe, von Empfindungen, die junge Menschen füreinander hegen und entdecken, erzählt, sondern eher der Körper des Menschen vermessen und in seiner Funktionsweise erklärt.

"Nicht die Eltern geben das Leben, sie haben nur Anteil an der Weitergabe des Lebens."

Die gläubige Autorin ist überzeugt davon, dass jedes Kind, das empfangen wird, Gottes Schöpfung ist: "Nicht die Eltern geben das Leben, sie haben nur Anteil an der Weitergabe des Lebens." Ehrfurcht und Dankbarkeit an dieser Mitwirkung können die Eltern so erfahren und erleben. Insoweit entdeckt Półtawskas einen tieferen Sinn in der märchenhaften Erzählung, dass der Storch die Kinder bringe. Diese Geschichte komme der Wahrheit näher als die Erklärungsmodelle der Wissenschaft, die natürlich die Zusammenhänge der Natur darlegen, aber aufs Ganze gesehen nicht hinreichend sind: "Wovon erzählt denn dieses Märchen? Es erzählt davon, dass ein Vogel die Kinder aus dem Himmel bringt, und das ist doch wirklich wahr – Kinder kommen aus dem Himmel, von Gott."

Eine neue Sensibilität für die Liebe zu und die Erziehung von Kindern möchte die Autorin damit wecken. Sie spricht von einer verborgenen, vielleicht heute verkannten Schönheit der Elternschaft, die herrschenden Meinungen entgegensteht und so die Perspektive öffnet, die wie überlagert und verdeckt zu sein scheint. Darüber hinaus stellen sich dem Leser berechtigterweise Fragen, ob junge Eltern und Paare überhaupt liebesfähig sind, ob sie über die nötige sittliche und charakterliche Reife verfügen, einander aufrichtig zu lieben und die Kinder beim Aufwachsen fürsorglich zu begleiten. Wanda Półtawska gibt Beispiele dafür, dass Eltern und Erwachsene oft schlechte Vorbilder sind. Kinder ahmen Eltern nach, etwa wenn sie lügen: "Kinder beobachten nämlich genau und entdecken die Fehler der Eltern." So wie die Eltern sich verhalten, so verhalten sich oft auch die Kinder. Ebenso kritisiert die Autorin schulmeisterliches Verhalten und gibt Beispiele dafür: "Manchmal sage ich den Lehrern in der Schule, wenn sie einem Kind in Mathematik die schlechteste Note geben, dürften sie nicht gleichzeitig zu ihm sagen, dass es dumm sei, sondern dass es etwas nicht so gut kann, wie sie das gerne hätten. Ansonsten kann das Kind sehr intelligent sein, hat aber eben genau das nicht gelernt."

Hier zeigt sich, dass die auch gegenwärtig oft praktizierte Pädagogik nicht hilfreich und nützlich ist, sondern manchmal – auch durch einen überflüssigen Leistungsdruck – zu einer Belastung für die Kinder wird, die nicht nur persönlich ihr Ungenügen erfahren, sondern dann auch noch verhöhnt und verspottet werden. So plädiert Wanda Półtawska stets für Achtung und Wertschätzung. Entscheidend ist die Haltung, in der Erwachsene Kindern begegnen, ob sie Freundlichkeit und Güte erleben, erfahren und dann so auch selbst wieder ausstrahlen können.

Weiterhin warnt die Autorin vor der verbreiteten Vergnügungssucht und wünscht sich die Wahrnehmung von Verantwortung. Das Geschlechtsorgan sei "kein Spielzeug", das beliebig nutzbar sei: "Es gibt Männer, die nicht wissen, dass sie Kinder haben. Manchmal erfahre ich in meiner Beratung, dass er ein Kind hat, er aber weiß es nicht. Er hat sich mit so vielen Mädchen vergnügt und hat seine Samen gestreut, aber es interessierte ihn überhaupt nicht, was aus ihnen wurde. Er erinnert sich nicht an die Namen dieser Mädchen, die er auf irgendwelchen Partys, in Diskotheken, Kneipen oder irgendwelchen Hotels kennengelernt hat. Einmal sah ich ein Paar, das sogar in der Jagiellonen-Bibliothek auf einer Bank hinter einem Pfeiler Geschlechtsverkehr hatte, manchmal sieht man das auch im Planty-Park in Krakau. Genau wie Hunde auf der Wiese. Was soll man nur mit Männern machen? Wie soll man sie erziehen? Man kann nur den Verstand wecken und von der Erzielung zur Selbsterziehung anleiten."

Wanda Półtawskas wirbt deutlich für ein anderes Modell von Liebe, Partnerschaft und Verantwortung. Wer das als altmodisch ansieht oder abtut, mag vielleicht auf der Höhe der Zeit sein, muss sich aber auch fragen: Welche Form der Sexualerziehung wünsche ich mir für meine Kinder und Enkelkinder? Auf welche Weise sollen sie leben und lieben? Ernste Fragen wie diese lassen sich nicht oder nur unzureichend durch die Praktiken der säkularen Sexualkunde beantworten.

Wanda Półtawska erinnert ihre Leser daran, wie unverzichtbar wichtig es ist, füreinander da zu sein – und nicht nur gelegentlich, sondern ganz und gar.

In diesem Buch wird die "Schönheit des Körpers" mit der "Schönheit der Seele" in Verbindung gesetzt. Für Wanda Półtawska liegt die Schönheit der Frau gerade in der Mutterschaft, in der alle "Talente der Frau" zur Entfaltung kommen. Sie denkt dabei – und das ist zu beachten – nicht als Naturwissenschaftlerin. Mutterschaft ist für sie ein "Symbol für Altruismus": "Die Mutterschaft muss auch gar nicht biologisch sein, sondern es geht um die Eigenschaft der Mütterlichkeit. Jede junge Frau hat zu einer Mutterfigur heranzureifen." Die Autorin denkt an die fürsorgliche, unbedingte Liebesfähigkeit. Wäre das eine Chance auch für die Pädagogik heute? Es lohnt sich, darüber nachzudenken und diese ungeschmeidigen Gedanken ernsthaft zu erwägen. Ein Problem der Gegenwart benennt die Autorin exakt. Viele Kinder würden "im Stich gelassen", das heißt also auch – die Erwachsenen sind oft eher mit sich selbst beschäftigt. Das "Schlimmste" sei, "dass Erwachsene keine Zeit für die Jugend haben". So entstehen auch Wahrnehmungs- und Sensibilitätsverluste. Wanda Półtawska erinnert ihre Leser daran, wie unverzichtbar wichtig es ist, füreinander da zu sein – und nicht nur gelegentlich, sondern ganz und gar.

Dieses lesenswerte Buch verdient große Aufmerksamkeit – und das nicht nur von Eltern und Großeltern.


von Thorsten Paprotny - 30. Januar 2024
Lernt einander lieben
Wanda Półtawska
Andrea Reutner (Übersetzung)
Renata Zaluska (Übersetzung)
Lernt einander lieben

Fe-Medienverlag 2023
Originalsprache: Polnisch
264 Seiten, broschiert
EAN 978-3863574017