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Ilja Ilf, Jewgenin Petrov: Das eingeschossige Amerika

Gott, Kaffee und ein Stück Brot

"Das eingeschossige Amerika" handelt von Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows Reise durch Amerika, mit Fotos von Ilja Ilf in Schwarz-Weiss und Briefen aus Amerika, sowie Leserbriefen von 1937, wurde aus dem Russischen übersetzt und mit erläuternden Kommentaren versehen von Helmut Ettinger und wird hier präsentiert mit einer Vorbemerkung von Alexandra Ilf und einem Vorwort von Felicitas Hoppe. Der Herausgeber Christian Döring schreibt: "diese unglaubliche Geschichte erschien mir zu schön, um wahr zu sein: Zwei sowjetische Literaturstars, Satiriker von grossem Rang, durften mit Billigung Stalins Mitte der dreissiger Jahre die Vereinigten Staaten des kapitalistischen Amerika von West nach Ost als Reporter erkunden ... und ihre grosse Reisereportage wurde noch nie ins Deutsche übertragen." Bis jetzt, wo sie in der "Anderen Bibliothek" vorgelegt wird.

In den Dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschte in den Vereinigten Staaten "the Great Depression", es war dies die Zeit als unter Franklin D. Roosevelt Unterstützungsprogramme (the New Deal) für die ärmsten Teile der Bevölkerung eingeführt wurden. Eines der bekanntesten Bücher dieser Zeit ist James Agees und Walker Evans' "Preisen will ich die grossen Männer", welches die Lebensbedingungen von drei in bitterer Armut lebenden Baumwollpflückerfamilien dokumentierte. Es war dieses Buch, das ich vor Augen hatte, als ich mich mit Ilfs und Petrows Amerika zu befassen begann, um dann jedoch zu entdecken, dass es sich beim Buch der beiden Russen um etwas gänzlich anderes handelte - eine Entdeckungsreise der etwas anderen Art.

Die beiden Russen schiffen sich in Le Havre ein, von wo sie die "Normandie" über den grossen Teich nach New York bringt: "Bisher hatten wir die Vorstellung gehabt, der Seeweg zwischen der Alten und der Neuen Welt sei eine belebte Strasse, wo man vielen lustig beflaggten Schiffen mit Musik begegnet. In Wirklichkeit ist der Ozean eine gewaltige Wasserwüste. Der kleine Dampfer, der 400 Meilen vor Europa mit den Wellen kämpfte, war das einzige Schiff, das uns während der fünftägigen Überfahrt begegnete. Die "Normandie" legte sich langsam und würdevoll von einer Seite auf die andere. In gleichmässigem Tempo pflügte sie durch die hohen Wellen, die von allen Seiten gegen sie anrannten, und verbeugte sich nur hin und wieder vor dem Ozean. Das war nicht das Ringen einer schwachen Schöpfung von Menschenhand mit den entfesselten Elementen. Es war ein Kampf von Gleich zu Gleich."

Von Oktober 1935 bis Februar 1936 reisen sie dann mit dem Auto von New York über Chicago an die Westküste und zurück, mit einem Abstecher nach Mexiko. Sie wollen das "eingeschossige Amerika" der Durchschnittsamerikaner und nicht das Amerika der Wolkenkratzer erkunden.

Sie sind voll des Lobes für die amerikanische Lebensart, vor allem preisen sie den Komfort ("Komfort ist in Amerika durchaus kein Zeichen von Luxus. Er gehört zum Standard und ist erschwinglich."), doch ohne etwa unkritisch zu sein. "Den bettelarmen Menschen bot man keine Arbeit, nur einen Gott, böse und fordernd wie der Teufel. Die Leute, die ein Nachtlager suchten, widersprachen nicht. Ein Gott mit einem Kaffee und einem Stück Brot - das war doch wenigstens etwas. Singen wir also, Brüder, zum Ruhme des Kaffeegottes!"

Gar vielerlei entdecken und kommentieren die beiden Satiriker. Essgewohnheiten, zum Beispiel: "Sie essen sehr schnell und sitzen nicht eine Minute zu lang am Tisch. Sie essen nicht, sondern füllen sich den Magen, so wie der Motor mit Benzin betankt wird." Oder die Technik: "Der edle Stil der amerikanischen Technik besteht darin, dass nichts Nebensächliches vom Wesen der Sache ablenkt." Oder die Organisation: "Ein Ausländer kann leichten Herzens auf einer amerikanischen Strasse fahren, auch wenn er kein Englisch versteht. Er kann sich nicht verirren, wie fremd ihm die Gegend auch sein mag. Auf diesen Strassen findet sich selbst ein Kind oder ein Taubstummer zurecht. Sie sind exakt nummeriert, und die Nummern tauchen so häufig auf, dass man sich einfach nicht in der Richtung irren kann." Oder die Enchiladas in einem "Original Mexican Restaurant" essen: "längliche, appetitliche Plinsen, die man mit roter Paprika, fein geschnittenem Schiesspulver, gefüllt und mit Nitroglyzerin übergossen hatten. Ein solches Menü ohne einen Feuerwehrhelm auf dem Kopf zu vertilgen, ist unmöglich."

Wie gesagt: es ist eine Entdeckungsreise der etwas anderen Art. Und unbedingt lesenswert. Und auch die Leserbriefe lohnen. Einer ist so schön, dass er hier ausschnittweise wiedergegeben werden soll. Er stammt vom 18jährigen Iwan Maximowitsch Manakow: "... Aus diesem Roman habe ich erfahren, was Amerika darstellt und welche Rolle es spielt. Ich habe mich an diese beiden Autoren gewöhnt und ihre Gefühle kennengelernt, als hätte ich selbst alles gesehen und wäre bei ihnen gewesen. Ihre Reise hat mich so gefangen genommen, dass ich mit offenem Mund gelesen und immer neue Wörter geschluckt habe. Ich wollte schlafen gehen, aber ich konnte nicht, weil ich weiterlesen musste. Denn immer wieder kam Neues und Fesselndes. Nirgends bin ich auf ein Missverständnis gestossen, alles war im Rhythmus, obwohl die Form ja Prosa ist ..."


von Hans Durrer - 10. März 2012
Das eingeschossige Amerika
Ilja Ilf
Jewgenin Petrov
Helmut Ettinger (Übersetzung)
Das eingeschossige Amerika

Eine Reiseerzählung
Eichborn 2011
Originalsprache: Russisch
653 Seiten, gebunden
EAN 978-3821862392