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Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel

Wie Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade zur Selbstverständlichkeit wurden

Für den heutigen Zeitgenossen ist es beinahe unvorstellbar: Die Genussmittel Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade gehörten in den letzten drei Jahrhunderten nicht zum Alltag. Sie waren meist den oberen Schichten als Luxusprodukte vorbehalten. Erst mit dem Beginn des weltumspannenden Handels war es auch den "unteren Schichten" möglich, den begehrten Genussmitteln zu frönen.

In ihrer Habilitationsschrift entfaltet Annerose Menninger genau diese Entwicklung. In sechs Kapiteln gelingt es der Autorin einen fundierten Überblick sowohl über die Eigenschaften als auch die Entdeckung der Genussmittel zu geben. Daneben sind es vor allem die Kapitel über den Globalisierungsprozess, die die mit ihm zusammenhängende Ausbreitung der Genussmittel zu "Massenkonsumartikeln", wie wir sie heute kennen, beschreiben. Auf einer sehr breiten Quellenbasis beruhend, hat es Annerose Menninger geschafft, eine unterhaltsame und bisweilen spannend zu lesende Arbeit vorzulegen. Dabei kommt die wissenschaftliche Genauigkeit zu keinem Zeitpunkt zu kurz: Die bisherigen Forschungsleistungen werden genauestens überprüft und gegebenenfalls modifiziert.

Auch methodisch gibt es keinen Anlaß zur Kritik. So greift Annerose Menninger die Zivilisationstheorie von Norbert Elias auf, um den Diffusionsprozess der Genussmittel zu erklären, kann diese aber für ihren Untersuchungsgegenstand nicht bestätigen. Das von Elias entwickelte Stufenmodell sieht in der europäischen Oberschicht die Keimzelle historischer Modernisierungs- und Innovationsprozesse, sie sei also maßgebend für die Ausbreitung der Genussmittel in allen "unteren Schichten". Allerdings würde man bei Anwendung dieser Theorie "die Rolle der frühneuzeitlichen europäischen Medizin als schichtenübergreifende Autorität" übersehen. Das idealtypische Schichtenmodell von Elias würde somit durch die Typologisierung der Genussmittel als "geschätzte Drogen" nicht greifen bzw. "durchkreuzt werden" (S. 282).

Dennoch, und das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse von Annerose Menninger, ist der Diffusionsprozess der Genussmittel durch ein Lernverhalten determiniert, "das eng verknüpft war mit der Begriffstrias Beobachtung, Imitation und Motivation" (S. 282). Durch die Verbreitung der vier Genussmittel in Europa ergab sich für dessen Bevölkerung eine völlig neue Erfahrung. Nikotin und Koffein waren bisher nicht bekannt. Ebenso wenig die Genussformen des Rauchens und Schupfens oder das Konsumieren von Heißgetränken. Die Ausbreitung der vier wichtigsten Genussmittel bildet die Existenzgrundlage und den Wohlstand europäischer Kolonien. Nach und nach drangen sie immer mehr in den europäischen und auch außereuropäischen Alltag ein und veränderten die kulturelle Lebensweise vieler Menschen. Die Flexibilität der Genussmittel ist zudem ein ganz besonderes Phänomen. In verschiedenen Kulturen etablierten sich die Genussmittel auf eine jeweils andere Art und Weise. So schmeckt noch heute ein arabischer Kaffee anders als ein westeuropäisch zubereiteter Kaffee.

Es bleibt zu hoffen, dass Annerose Menningers Werk viele Leser findet. Nur allzu selten verbindet sich exakte Wissenschaft und kurzweilige Unterhaltsamkeit auf so eindrucksvolle Weise.


von Benjamin Obermüller - 15. Mai 2005
Genuss im kulturellen Wandel
Annerose Menninger
Genuss im kulturellen Wandel

Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16. - 19. Jahrhundert)
Franz Steiner 2004
488 Seiten, gebunden
EAN 978-3515086240
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