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Dave Eggers: Zeitoun

Katrina

Bei "Zeitoun" handelt es sich um einen Tatsachenroman. Drei Jahre hat Dave Eggers (in enger Kooperation mit der Familie Zeitoun) daran gearbeitet. Herausgekommen ist ein eindrückliches und herausragendes Buch, das, weil es sich an der Wirklichkeit und nicht an der Fantasie des Autors orientiert, eigentlich eine literarische Reportage ist. Oder eben ein Tatsachenroman.

Worum geht es? Im August 2005 nähert sich der Hurrikan Katrina New Orleans. Abdulrahman Zeitoun, Amerikaner syrischer Herkunft, Ehemann der aus Louisiana stammenden, zum muslimischen Glauben übergetretenen Kathy, Vater von vier Kindern und Inhaber eines Malereibetriebes, schickt seine Familie, der Aufforderungen der Behörden wegen, nach Arizona, beschliesst aber, selber in der Stadt zu bleiben, um Haus, Besitztümer und Arbeitsstätten im Auge zu behalten. Als der Sturm vorüber ist, kurvt er in seinem Kanu durch die überflutete Nachbarschaft: "Fast alle, die er kannte, hatten die Stadt für ein paar Tage verlassen und nur mit leichten Schäden gerechnet. Wenn er an ihren Häusern vorbeikam, von denen er so viele gestrichen und mitgebaut hatte, malte er sich aus, was in ihrem Innern alles zerstört war. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Schmerz das verursachen würde, und das machte ihm schwer zu schaffen. Niemand, so wusste er, war auch nur halbwegs angemessen auf das hier vorbereitet gewesen.

Er dachte an die Tiere. Die Eichhörnchen, Mäuse, Ratten, Frösche, Oposums, Eidechsen. Alle tot. Millionen ertrunkene Tiere. Nur Vögel konnten eine solche Apokalypse überleben. Vögel, einige Schlangenarten, überhaupt Tiere, die vor der steigenden Flut auf höheres Gelände flüchten konnten. Er hielt Ausschau nach Fischen. Falls das Wasser, auf dem er unterwegs war, aus dem Lake Pontchartrain kam, dann mussten Fische in die Stadt gespült worden sein. Und tatsächlich, wie aufs Stichwort sah er einen dunklen Schatten zwischen überflutete Baumzweige huschen. Ihm fielen die Hunde ein. Er legte sich das Paddel quer auf den Schoss, liess das Boot treiben, während er überlegte, von wo genau er in der Nacht das Hundejaulen gehört hatte. Er hörte nichts."

Der erste Teil dieses in jeder Hinsicht überzeugenden Buches handelt hauptsächlich davon, wie Zeitoun hilft, wo er kann. Dabei erfährt man auch einiges von Zeitouns Aufwachsen in Syrien, von seinen Werten, seinem Glauben und seiner Sturheit. Der zweite Teil berichtet von Zeitouns Verhaftung, seinem Aufenthalt in einem Gefängnis, das an Guantanamo erinnert, sowie seiner Freilassung: Die Nationalgarde hatte ihn für einen Terroristen gehalten.

Das Buch überzeugt, weil es ganz einfach beschreibt und dokumentiert, was einige Menschen während Katrina erlebt haben: es zeichnet auf und hält fest - und bewirkt damit wohl mehr, als es eine wütende Anklageschrift hätte bewerkstelligen können. Es sind Gefühle von Wut, Zorn und bodenloser Ernüchterung, mit denen der Leser zurückgelassen wird. "Wie konnte das in Amerika passieren?", fragte die New York Review of Books.

Wie jede andere Katastrophe, so zeigt uns auch Katrina, wie dünn die soziale Schicht ist, die das Zusammenleben der Menschen erst ermöglicht. Und wie schnell diese dünne Schicht einbricht, was für Abgründe sich dann auftun und wie wenig Vertrauen die Menschen in ihre Institutionen haben dürfen. Nasser Dayoob, der zusammen mit Abdulrahman Zeitoun verhaftet wurde, verbrachte sechs Monate im Gefängnis. "Als er entlassen wurde, wollte er die 10'000 Dollar zurückbekommen, die er bei seiner Festnahme bei sich gehabt hatte. Keine offizielle Stelle wusste etwas von dem Verbleib des Geldes, und er bekam seine Ersparnisse nie wieder. 2008 ging er zurück nach Syrien."

"Zeitoun" lässt einen um einige Illusionen ärmer zurück. Zerbrochen sei sie daran, sagt Kathy, "dass diese fremde Frau [eine Staatsangestellte, die ihr sagte, sie könne ihr den Ort der Anhörung ihres Mannes nicht bekannt geben, das sei eine vertrauliche Information] um ihre Verzweiflung, ihren Kummer wusste und sie einfach abschmettern konnte. Dass es Prozesse ohne Zeugen geben konnte, dass ihre Regierung Menschen verschwinden lassen konnte."

Eindrücklicher habe ich bisher nicht über Katrina gelesen.


von Hans Durrer - 28. Mai 2011
Zeitoun
Dave Eggers
Zeitoun

Kiepenheuer & Witsch 2011
336 Seiten, gebunden
EAN 978-3462042993