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Theodor Fontane: Da sitzt das Scheusal wieder

"Alles Mumpitz!" – Theodor Fontane, ein erfrischend ungeschmeidiger Theaterkritiker

Theodor Fontanes Geburtstag jährt sich am 30. Dezember 2019 zum zweihundertsten Mal. Er hätte Feierlichkeiten zu seinem Gedächtnis jeglicher Art gelassen und mit skeptischer Heiterkeit wahrgenommen. Seine Werke bleiben lesenswert, auch die kleineren Arbeiten. Fontane, als Lyriker, Erzähler und Romancier bekannt, war als Schriftsteller ein Mann mit vielen Eigenschaften und voller Talente. Manchmal führten seine "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" auf gewisse Weise auch ins Schauspielhaus. Dort entdeckte er nicht verfallene Schlösser, sondern – immer wieder – Künstlerinnen, natürlich auch Künstler. Seine sorgsam gezeichneten Frauengestalten gefallen besonders. Zuneigung und Wohlgefallen verbirgt er nicht. Theodor Fontane mochte ganz einfach attraktive, geistreiche und talentierte Damen. Er porträtierte sie, manchmal beiläufig, sichtlich zugeneigt und liebevoll. Auch Schauspielerinnen gehörte seine Sympathie. Mehr als zwanzig Jahre arbeitete Fontane für die als konservativ geltende "Kreuz-Zeitung", später für die liberale "Vossische Zeitung", aber der Theaterkritiker besaß alle Freiheit und wusste ebenso ungeniert wie ungeschmeidig die preußische Schauspielkunst und durchreisende Ensembles zu beurteilen. Die Stücke langweilten mitunter, auch die Inszenierungen – ob konventionell gehalten oder angestrengt modern – boten oft wenig Unterhaltung. Fontane besaß ein untrügliches Gespür für besondere Momente. Zugleich wusste er: Im Theater mag der Zuschauer sich langweilen, der Kritiker darf den Leser nicht noch zusätzlich narkotisieren. Er ist auch nicht dazu berufen, den "guten Willen" zu loben oder offenkundig Missglücktes als ingeniös zu bezeichnen.  

Manche seiner Leser unterstellen Fontane eine ungezügelte Verehrung von Adligen. Doch der Schriftsteller erkannte vor allem die Vielfalt ihrer ganz eigenen Bühnenauftritte. Es ist durchaus doppelsinnig, wenn preußische Hoheiten – so 1886 der greise Kaiser Wilhelm I. und seine Gattin – ein vollkommen belangloses Theaterstück besuchen: "Gleich nach 7 h erschienen die Majestäten, das Haus erhob sich und Kaiser und Kaiserin dankten huldvoll." Am Ende der Inszenierung, musikalisch feierlich begleitet, wird vor einer Schlosskulisse auf der Bühne "die lorbeergekrönte Büste Kaiser Wilhelms" sichtbar. Fontanes Beschreibung des wilhelminischen Prunks ist nichts anderes als ein diskreter, schmunzelnder Kommentar: "Man war wie elektrisirt, und das ganze Parquet, von seinen Plätzen sich erhebend und wie auf Kommando nach der großen Königlichen Loge hin Kehrt machend, brach in stürmische Hochs aus, die der Kaiser, sichtlich beglückt durch den Verlauf des Abends, durch eine freundlich-gnädige Verneigung erwiederte." Kaiser Wilhelm erschien, schon war die spröde Inszenierung fast nebensächlich. 

Fontane wusste, wie jeder Theaterbesucher heute, dass oft nur das unbequeme Mobiliar vor Müdigkeit schützt. Ein Kritiker darf gute, sogar beste Absichten respektieren, aber nicht goutieren. Jeglichen Dilettantismus benennt Theodor Fontane souverän. Er langweilte sich so ungern. Vor einer Aufführung von Victorien Sardous "Les vieux garçons", damals bekannt, heute vergessen, beginnt Fontane mit einem Wetterbericht. Das königliche Schauspielhaus erinnerte mehr an Grönland statt "Inner-Afrika": "Durch das Fenster links kam eine eisige Luft, und wir begannen bereits den sicheren Einsatz an Gesundheit gegen einen unsicheren an Genuß zu berechnen. Aber es kam Alles anderes." Nicht das Stück, aber eine Schauspielerin begeistert ihn an diesem Neujahrstag – und das genügt. Die preußische Polarluft ist vergessen, er schwärmt von einer "Herzenswärme", die bis zur "Siedehitze des Enthusiasmus" führt. Der Inhalt sei unerheblich, aber die Personen, besonders eine, bemerkenswert: "Der moderne Mensch muß Alles wissen und weiß deshalb »bekanntlich« auch Alles, am meisten Das, was er nicht weiß." Fontane feiert das französische Theater, vor allem die Schauspielerinnen, ganz besonders Mademoiselle Dany, eine "höchst anmuthige Vertreterin", mit Charme und Stilgefühl. Er lobt die junge Dame und ihren besonderen Auftritt, "der seine vollkommensten Blüthen nur in Frankreich treibt". Die Preußen, bieder, bräsig und bürgerlich, können nicht mithalten. Die "gehemnißvollen Schönheitsformen" jener Mademoiselle schildert Fontane so anschaulich wie betört. Er denkt wehmütig an die "Welt der Koketterie", erkennt hier eine "Vornehmheit" voller Dankbarkeit. Der "wahre Adel" falle so "immer wieder mit dem Schön-Natürlichen" zusammen. Das Theater lebt, auch wenn das Stück ersichtlich belanglos ist. Das macht aber gar nichts, denn Mademoiselle Dany, aufrichtig bewundert, ist eine graziöse Erscheinung, ihr Lächeln sehenswerter als grüblerischer Tiefsinn oder dräuende Umständlichkeit. Diese schöne Französin leuchtet von innen her. Sie ist zu Gast in Preußen, und Fontane schaut zu. Aber er ist auch ein Chronist der Enttäuschungen. Dramen von Goethe, Schiller und anderen ziehen vorüber, "wie leblos, wie unberührt vom Geist der Dichtung". 

Fontane bekennt sich zur Ernsthaftigkeit der Kritik. 1880 wird ein "Götz von Berlichingen" aufgeführt. Es wäre aber ein "falscher Liebesdienst", eine bemühte Freiburger Schauspielerin zu loben. Theodor Fontane spricht über das Positive, er vermisst aber Charme und Frische. Er lobt zwar den Götz, aber "alles andere ließ sehr zu wünschen übrig, theils aus Mangel an Kraft, theils aus Mangel an Lust", eine Darbietung mit Patina, kraftlos und öde. Die Schauspieler wirken fast mumifiziert auf der Bühne. Auch eine Dame namens Olga Lorenz, vom Stadttheater Riga kommend, findet in Albert Emil Brachvogels "Narziß" nicht Fontanes Zustimmung: "Es war eine durchaus schwache Leistung, so zu sagen gar keine. Fräulein Lorenz hat eine schöne Figur und einen sympathisch berührenden Gesichtsausdruck; aber so viel das im Leben ist, so wenig ist es in der Kunst. Außerdem hat ihr Spiel an kleineren Theatern etwas Theatralisches gegeben. Aller ihrer Stattlichkeit unerachtet, wirkt sie nur klein."

Auch an den Dramatiker Lothar Clement wird sich heute niemand mehr erinnern. Fontane erregt sich über fades Professorentheater. Clements Stück sei "total verfehlt", prätentiös und selbstgefällig: "Die Langeweile, die dasselbe verursacht, ist nicht das Schlimmste, das viel Schlimmere darin ist der Umstand, daß man beständig eine Stimme aus der Wüste zu hören glaubt, die einem zuruft: »so, meine Herren und Damen, sieht das höhere Lustspiel aus, das Lustspiel des Psychologen und Physiologen, das Lustspiel des ästhetisch geschuldeten Mannes, der Bildung und Gedanken mitbringt«." So wie Fontane das dramatische Geschehen beschreibt, so wird es gewesen sein: beflissen, eitel und unerheblich, anstrengend für jedermann, wie ein endloser Sermon aus dem Geist biedermeierlicher Gelehrsamkeit. Fontane missbilligt auch die allzu gescheiten "Professorenbücher" und stellt fest: "Das Publikum, aller bewiesenen Geduld unerachtet, lehnte das Stück schließlich ziemlich energisch ab." Zugleich bemerkt er über den "Lustspiel-Reformator" Clement: "So leicht ist das alles nicht, wenn auch jeder Dritte glaubt, daß er einen Roman oder ein Drama von heute auf morgen schreiben kann." 

Ein Theaterstück kann auch empfindlich stören, wenn das "Gefühls-Unwahre" sichtbar wird. Fontane betont zugleich, dass "schlechte Rollen nicht gut gespielt werden können": "Aus Schwachem kann der darstellende Künstler etwas machen, aus Schiefem und Unwahrem nicht." Prägnant gefasst: "So das Stück. Alles unsagbar trivial von Anfang bis Ende." Trotzdem findet Fontane auch inmitten von allgegenwärtigen Schwächen zuweilen Positives, etwa wenn eine "schöne und stolze Frau" in einem mäßigen Drama die "ganze Tonleiter" der Gemütsstimmungen anschlagen kann. Diese Dame ist zumindest keine von den "Theaterpuppen", die er "Schreipuppen" nennt. Vom "Quieketon" einer kostümierten Puppe hält er gar nichts.

Fontane ist skeptisch gegenüber Henrik Ibsen. Dessen "Kunst und Technik" bewundert er, aber die düsteren Thesen? "Ich halte sie für falsch." Er nutzt die Theaterkritik, um nüchternen Realismus gegen die romantische Verklärung der Liebesheirat zu setzen. Der schwermütige Ibsen liefere eher Referate ab als Theaterstücke, er strenge an. Traurigkeit macht müde, aber auch die klassischen Muster der Kirchenkritik wecken keinerlei Wohlgefallen. Fontane mag den "Doktrinarismus" eines Stücks von Alexander Kielland nur noch resigniert zu kommentieren: "Der frömmelnde norwegische Pfarrer, der immer wieder an den Pranger der Lächerlichkeit gestellt wird, ist nicht mehr auszuhalten."

Niemand muss die Schauspielkunst, gestern und heute, mögen, um Gefallen an Theodor Fontanes Theaterkritiken zu finden. Dieser schmale Band mit ausgewählten Kritiken zur Bühnen- und Schauspielkunst schenkt einfach Freude. Für Fontane-Freunde und alle, die es noch werden könnten, ist dieses Buch ein vorzügliches Geschenk.


von Thorsten Paprotny - 06. Dezember 2019
Da sitzt das Scheusal wieder
Theodor Fontane
Debora Helmer (Hrsg.)
Da sitzt das Scheusal wieder

Die besten Theaterkritiken
Aufbau 2019
240 Seiten, gebunden
EAN 978-3351037420