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Alberto Vigevani: Sommer am See

Liebe im Sommer

Die Erzählung "Sommer am See" wurde bereits 1958 von dem italienischen Buchliebhaber, Verleger und Autor Alberto Vigevani verfasst. Leider ist diese Geschichte erst jetzt, nach knapp 50 Jahren, in einer hervorragenden deutschen Übersetzung von Marianne Schneider erschienen. Vigevani, Sohn wohlhabender jüdischer Eltern, wiederbelebt in seiner Erzählung die Welt des Mailänder Bürgertums der 1930er Jahre, ohne dabei die Zeitlosigkeit des Erzählstoffes einzuschränken. Es geht um das Erwachen und das jugendliche Brennen für die Liebe. Vigevani weckt mit seiner Erzählung längst verblasste Empfindungen, die doch nie vergessen gehen sollten. Er führt dem Leser die eigene Glückseeligkeit der mit der jugendlichen Liebe verbundenen Gefühle vor Augen. Er provoziert mit seiner elegisch vorgetragenen Erzählung eine wohlige Melancholie und tiefe Sehnsucht nach längst vergangener Unschuld.

Die Familie des 14jährigen Giacomo entflieht wie jedes Jahr der Mailänder Hektik und fährt auf die Sommerresidenz nach Menaggio am Comer See. Giacomo, "ein dicklicher Junge mit einem Lockenkopf und ausdrucksvollen, unruhigen Augen" ist im Wesentlichen durch seine Defizite charakterisiert. Zugleich ist er mit einer bewundernswerten Neigung zur Aufmerksamkeit und Reflektion gegenüber dem Erlebten ausgestattet; wohl die Ursache seines Hangs zur Schwermütigkeit. Statt die Ferien wie gewöhnlich am Meer und als Anhängsel seiner älteren Geschwistern am Strand zu verleben, wird Giacomo in diesem Sommer von einem Rausch unbekannter Gefühle erfasst, die ihn in eine sanfte Isolation erotischer Phantasien treiben. Zunächst fängt ihn aber die für die Ferien typische Leichtigkeit des Seins ein, die stets die sommerlichen Monate der Erholung prägten: "Über die vom Salz versengten Mauern hingen Äste, die sich unter der Last der reifen Früchte bogen. Mit den Füßen nachhelfend, sich die Hände zerkratzend, sprangen sie auf die Umfriedungsmauer eines Gartens. Das weiche, gerade aufgehackte Erdreich gab unter den Sandalen nach. In aller Eile pflückten sie die braunen Feigen, aus denen schon ein Tropfen hervortrat; und steckten sie vorne in ihre Trikots. Hinter einem Weinberg schrie jemand. Die ängstliche Eile die Mauer hinauf, die Feigen zerdrückt auf der Brust, das atemlose Rennen den abschüssigen Weg hinunter. Am Strand, im Schatten hinter einer Badehütte Bonos violette Lippen, während ihm der Zucker hinunterrinnt und er sagt: Da müssen wir morgen noch mal hin."

Doch diese Unbeschwertheit nimmt ein jähes Ende, als Giacomo Emilia, dem neuen Dienstmädchen der Familie, begegnet. Ihre jugendliche Schönheit erfasst ihn ohne Vorwarnung. Das erste Mal ergreift ihn die Kraft der süßen Mischung aus Leidenschaft, Begehren und Hingezogensein. "Einen Augenblick kam es ihm vor, als würde er zittern, dann fühlte er sich müde, plötzlich niedergedrückt von der Last des ganzen Tages." Die anfangs zufälligen und später gewollten schüchternen Berührungen lassen Giacomo in einem Zustand permanenter Begierde zurück, die kein Erfüllen findet. Er brennt nahezu für das junge Dienstmädchen, welches in keiner seiner Phantasien fehlt. Sich kaum des eigenen Geschlechts bewusst, ist er völlig überfordert mit den Bildern, die sich in seinem Kopf abspielen. "Er stellte sie sich nackt vor in ihrem geheimen Reichtum, von der Dunkelheit umzüngelt, die Schultern und die Brust schneeweiß im Licht, den Bauch in einen Flecken versunken. Eine verworrene, unsichere Obsession, so unsicher und verworren wie seine Erinnerungen, ..." Das ungestillte Brennen erlischt schlagartig an dem Abend, als er wie von fremder Hand gedrängt in Emilias Zimmer schleicht und Erfüllung sucht. Die junge Frau lässt ihn zwar ihren Körper befühlen, weist ihn aber schließlich mit dem Satz "Ich mag Dich gern, aber du bist doch noch ein Kind" ab. Giacomo verliert seine kindliche Unschuld. Das Feuer der Leidenschaft ist in ihm geweckt, auch wenn er an Emilia jegliches Interesse verliert und nach neuen Negativen sucht, die ihm als Vorlagen für seine Phantasien dienen können.

Nach einigen trostlosen Wochen, in denen ihn lediglich sein selbstgebautes Boot aufheitern kann, stößt sein Blick am Strand auf eine Engländerin. Geradezu zwanghaft beobachtet er sie und kehrt immer wieder an den Strand zurück, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. "Eine lebendige Kraft war dieser unbewegte Körper, was ihm nicht aus dem Kopf ging, war die Reinheit seines Umrisses, ... er blendete ihn, ohne ihn je zu enttäuschen, mitten in dem dunklen Gewimmel der Badenden in der Sonne war er ein lebhafter Lichtfleck, der schräg durch das dichte Laubwerk uralter Bäume drang." Die schöne Fremde ist für Giacomo die Frau, die ihn die "Schönheit des Moments", die "idealen Formen" begreifen lässt. Doch er muss feststellen, dass sie keineswegs allein ist, sondern sich rührend um ihren, offensichtlich kranken Sohn kümmert. In ihm sieht er die willkommene Gelegenheit, sie auf sich aufmerksam zu machen. Sein Boot wird das Lockmittel, mit dem er den kindlichen Andrew für sich gewinnen kann. Es entwickelt sich eine intensive Beziehung zwischen den beiden Jungen, die einen Schönheitsfehler birgt: Das Interesse Giacomos an der Mutter seines Freundes. Giacomo selbst wird in einen Sog unkontrollierbarer und nie erlebter Emotionen gezogen, die ihn sein Dasein zuweilen als Traumwelt empfinden lassen. Dabei wird Andrew das Medium Giacomos, welches ihm seine Phantasien erhält und ihn auf eine Erfüllung seiner Begierden hoffen lässt. "Er näherte sich Andrew und in dem Augenblick, in dem er die Finger auf seine Haut legte und sein Handgelenk berührte, um ihn zum Gehorchen zu bewegen, schien es ihm, als wäre die Wärme, die er spürte, noch die Wärme der Mutter." Gleichzeitig entflieht er mit dem Jungen der Welt der Erwachsenen und damit den bereits erfahrenen Enttäuschungen des Sommers. Je weiter der Roman fortschreitet, umso stärker nimmt Andrew die zentrale Rolle in Giacomos und Giacomo in Andrews Dasein ein. Wie ein großer Bruder kümmert sich dieser um das Wohl seines kleinen Freundes und fühlt sich in dieser Rolle von Tag zu Tag wohler. Die Lasten des Erwachsenwerdens, der unerfüllten Leidenschaften und Begierden treten hinter die kindliche Unbeschwertheit zurück, die er mit Andrew erleben kann. "Es war Andrew gewesen, dachte er, der ihn das Gefühl des verstreichenden Augenblicks gelehrt hatte."

Der Sommer streicht ins Land und die beiden Jungen lassen keinen Tag aus, um etwas miteinander zu unternehmen. Auf einem Fahrradausflug geraten Giacomo und Andrew in ein Unwetter. Andrew wird umgehend krank und ist mit hohem Fieber ans Bett gefesselt. Giacomo macht sich Vorwürfe, nicht an die kränkliche Verfassung seines Freundes gedacht zu haben. Am Krankenbett schenkt er Andrew sein selbstgebautes Boot; ein Symbol für seine wohl zu Ende gehende Kindheit. "Für Giacomo war ein neues Lebensalter herangereift: Vom Reiz der Sinne bis zu den zarten Bildern seiner knabenhaften Liebe." Andrews Mutter, die eigentlich Angebetete, reist ohne Vorankündigung mit ihrem Sohn ab und Giacomo bleibt zurück. "Es wurde ihm klar, dass er Andrew durch seine Mutter geliebt hatte, und trotzdem konnte er es nicht vermeiden, an sie zu denken. Während es für Andrew in seiner ersten Freundschaft keine Zweideutigkeiten gegeben hatte."

Alberto Vigevanis Erzählung wirkt wie ein Sommernachtstraum. Dabei webt er vor allem im zweiten Teil der Erzählung die besondere Atmosphäre der sommerlichen Seenlandschaft ein. Verbunden mit den intensiven (Selbst-)Beobachtungen des jungen Giacomo entsteht so diese berührende und entzückende Geschichte. Es scheint, als schwebe diese anrührende Erzählung über dem Morgennebel des Sees, dessen Kulisse sie sich bedient. Sie ist voller Schönheit und Unschuld und ergreift mit ihrer Intensität und Emotionalität. "Sommer am See" ist wie eine Welle, die über den Leser kommt und ihn mitreißt. Einem Tauchgang ähnlich hüllt diese Erzählung ein, wärmt, gibt Geborgenheit und lässt die täglichen Sorgen in den Hintergrund treten. Diese Erzählung hinterlässt einen ruhigen und zufriedenen Leser, der sich selbst in den Sommerferien wähnt. Ein großartiger Text, völlig zeit- und grenzenlos, endlich auch dem deutschen Leser zugänglich. Welch ein Glück.

Diese Buchbesprechung ist ursprünglich bei der Berliner Literaturkritik erschienen.


von Thomas Hummitzsch - 22. November 2007
Sommer am See
Alberto Vigevani
Sommer am See

Eine Erzählung
Friedenauer Presse 2007
126 Seiten, broschiert
EAN 978-3932109508
aus dem Italienischen von Marianne Schneider