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Martin Walser: Spätdienst

Schwebende Impressionen – Sensible lyrische Beobachtungen

Im Lauf seines langen Lebens hat der mittlerweile 93 Jahre alte Schriftsteller Martin Walser nicht nur das weite Land der Seele erkundet, sondern auch jede Form literarischen Arbeitens für sich behutsam entdeckt und erschlossen. Große Romane publizierte er ebenso wie kleine, bisweilen schwebend anmutende Erzählungen. Er äußerte sich philosophisch, religiös musikalisch, tastend, sehr vorsichtig, vielleicht hoffend, im Innersten weder ein wissend Gläubiger noch ein bekennend Ungläubiger. In dem schmalen Band "Spätdienst" notiert Walser Poetisches, Beobachtungen und Erwägungen, die mitunter zu Gedichten geformt und in die Arabesken seiner Tochter Alissa Walser eingebettet sind. Doch auch Resonanzräume entstehen, wenn der Schriftsteller sich unverstanden fühlt. Die kritischen Feuilletonisten, deren Murren über seine Alterswerke er kommentiert, möchte er scheinbar nicht übersehen. Doch er ist dankbar und bemerkt, wer ihn versteht, mit ihm auf die Welt schaut und manchmal auch darüber hinaus. So öffnen sich mögliche Ausblicke, zu zart formuliert, als dass sie mit dem erhabenen, schwerblütigen Begriff des Metaphysischen bezeichnet oder umkleidet werden könnten.

Verwöhnt sei er, so gesteht, ja bekennt sich Walser, "von Religion und Märchen", und leugne den Tod, jeden Tag neu. Er wolle höchstens die "Süße der Todesidee" kosten, "wie etwas, woran man nicht glaubt". Der Leser grübelt, staunt, gleitet hinweg und kehrt zu den Zeilen zurück: Möchte Martin Walser das Sterben ignorieren? Übersehen? Sieht er den Tod als etwas an, das nicht, vielleicht nie kommt, dem er sich – so wie jeder andere auch – unausweichlich nähert? Nicht jedes Rätsel, auch nicht das lyrische, müssen wir lösen. Wenige Zeilen danach ist von Liebe die Rede, von der Liebe zur Natur, zur Schönheit der Welt, die er dankbar betrachtet. Der Dichter ist froh, aufmerksam schauen zu dürfen, auch ohne Geste, Getue oder künstliche Übertreibung. Zum Missionar ist er unbegabt. Walser sagt, "wir können schon etwas empfinden, ohne gleich in die Knie zu gehen". Auch "Hoffnungslosigkeit" gebe es, diese sei, "in Musik ausgedrückt", als "etwas Besonderes" zu erleben. An welchen Komponisten, an welche Stück mag er denken? Walser schweigt, also kein Bekenntnis zum schwermütigen Brahms, zum wuchtig tosenden Verdi. Möglicherweise musiziert auch die Natur, oft sehr leise. Das Rauschen, ja das Rascheln der Blätter im Wind wird fast immer überhört, nicht als Musik erfahren.

Martin Walser grübelt, denkt über Reichtum nach: "Wenn man viel hat, glaubt man mit wenig auskommen zu können. Wer alles hat, glaubt, viel entbehren zu können. Man muss die fragen, die wenig haben. Nur sie wissen, wie viel man braucht." Beschreibt er Minimalisten, Zeitgenossen, die vor allem von allem wenig haben möchten? Oder wollen nicht, älter werdend, viele Menschen reisen – mit leichtem Gepäck? Wir hängen unsere Herzen an alte Gegenstände, machen uns fest, harren aus, sammeln und horten. Wie viel ist genug? Wahrscheinlich immer sehr viel weniger. Aber wer viel hat und noch mehr haben könnte, kann nicht verlässlich darauf antworten. Das sagt Martin Walser, hinzugefügt sei: der eine oder die andere vielleicht doch schon. Viele Kranke wünschen sich nicht Gesundheit, Kraft, Stärke, denn sie wissen, dies ist eine wunderbare Illusion, sie wünschen sich vor allem etwas anderes – noch ein wenig bleiben zu dürfen. Sie verlangen nicht nach mehr – wie man das heute so oft nennt – Lebensqualität. Aber sie möchten noch leben, was einfach nur heißt: nicht sterben, noch nicht. So viele möchten nichts lieber als noch ein wenig bleiben und ein wenig lieben, auch darüber schreibt Martin Walser: "Je mehr du jemanden liebst, umso mehr verdient der deine Liebe."

Schließlich philosophiert der Schriftsteller doch noch. Verboten ist es nicht, auch keine Schande. Wir glauben an die Kausalität, sagte David Hume, entdecken auch Kausalitäten oder glauben diese zu erkennen, erkannt zu haben. Sind wir wirklich so frei, wie wir manchmal meinen? "Undurchschaute Notwendigkeiten werden von manchen als Freiheit empfunden." Wir werden uns selbst nicht durchsichtig, aber dass wir vieles durchschauen, den Durchblick haben, davon sind wir überzeugt. Warum eigentlich? Wie schön klingen dann Verse wie diese, schön und traurig zugleich:

"Ich lebe von wenigen Rosen,
die Sonne kommt zu spät, ich
zeichne Sekundensterne, Pferde
scheinen zu trauern. Ich auch."

Wieder und wieder scheinen Glaubensfragen auf, Zweifel, tastende Überlegungen: "Alleinsein hat keinen Ton." Wer lautlos warte, allein sei, singe, sobald er an Gott glaube. Glauben, das heißt wohl – in Walsers Worten: wer Gott "annimmt". Bleibt es so? Der Singende verstummt, wenn er sich durchschaut. Er reflektiert, denkt sich hinein in die Glaubenslosigkeit. Wie gern würde er wieder singen – nur er vermag dies nicht mehr zu tun. Die Redlichkeit lässt ihn schweigen oder die Erkenntnis, an deren absolute Gültigkeit er nun glaubt.

Zur Musik kehrt Walser zurück, stets aufs Neue, so oft wie nie zuvor: "Ich möchte wie Musik sein, unmissverständlich, berührend die Stelle, an der du lebendig bist." Musik also ist – unmissverständlich. Stimmt das? Der Hörende kann sich dem von innen her verschließen, was er wahrnimmt, aber die Musik bleibt ungeschmeidig und zärtlich, anders als ein Ich, ja als ein liebender Mensch eigentlich sein kann. Bitter und traurig macht Walser gallige Ironie, feindseliger Spott, garstiger Hohn, auch "fromme Sprüche wüten fort und fort". Niemand mag, niemand möchte sie wirklich hören, so wie die endlose Litanei der besten Absichten und freundlich dargebrachten Wünsche. Was bleibt zu tun?

"Möchte gern Gedichte machen,
wie von der Wiese gepflückt
sollen sie sein, und ein Bach

soll durch die Zeilen gehen,
glitzernd und mit leisem Laut."

Am Ende dieses kostbaren Gewebes aus poetischen Momenten und sanft gezeichneten Arabesken kehren meine Gedanken zur Widmung zurück. Walser sagte, für die Gegner sei dieser Band "ein gefundenes Fressen", für seine Leser "vielleicht ein Ausflug ins Vertraute". Martin Walser sei darum gedankt für diese neuen Gedichte, die vieles andeuten und manches zeigen, vielleicht auch hoffen lassen, dass der Horizont, vor dem wir uns bewegen, viel weiter reicht, als die Frömmsten unter jenen, die gern an Gott glauben würden, zu denken wagen.


von Thorsten Paprotny - 21. August 2020
Spätdienst
Martin Walser
Alissa Walser (Illustration)
Spätdienst

Bekenntnis und Stimmung
Rowohlt 2018
208 Seiten, gebunden
EAN 978-3498074074