https://www.rezensionen.ch/schoener-denn-je/3518429736/

Hans-Ulrich Treichel: Schöner denn je

Ein liebenswerter Verlierer in der Sphäre von "fast"

Passiert da noch etwas? Je näher die letzten Buchseiten rücken, umso ungeduldiger wartet der geneigte Leser darauf. Aber Treichels Ich-Erzähler und Hauptfigur Andreas Reiss bleibt bis zum Schluss seiner Rolle treu: als zaudernder, unschlüssiger, sich immer wieder selbst in Frage stellender und zugleich liebenswerter Verlierer. Selbst die von Andreas angehimmelte weltberühmte, bezaubernd schöne Schauspielerin Hélène Grossman, die zufällig in sein Leben tritt, kann ihn nicht zu echten Liebesgefühlen anregen. Zu stark spürt er die Distanz zu ihr und ihrer Welt und zu stark wird sein Bewusstsein überlagert von einer Beziehung zu einem Menschen namens Erik, den er seit gemeinsamen Schultagen in einer norddeutschen Kleinstadt kennt. Andreas sieht in Erik seither einen Rivalen, einen "Wettbewerber des Lebens". So heißt es gleich auf der ersten Seite: "Erik war nicht nur der Bessere, was die Schulnoten, die Beliebtheit bei den Mädchen, den Sport oder das Berufsleben betraf, damit hätte ich zurechtkommen können. Nein, er schien auch das interessantere und ereignisreichere Leben zu führen." 

Die Beziehung zwischen Andreas und Erik ist das beherrschende Thema des neuen Romans von Hans-Ulrich Treichel. Liebhaber seines pointierten, sprachlich ausgefeilten und oft ironischen Humors, seiner feinen, eher indirekten Charakterzeichnungen, seiner sparsam eingesetzten, gescheiten Dialoge und seiner lakonischen Sprache haben darauf schon gewartet. Auch in "Schöner denn je" treten seine typischen Stilmittel wieder hervor. Zum Beispiel, als Andreas seine Mitstudentin und spätere Frau Susanne kennenlernt. Beide studieren Romanistik und kommen sich in einem Filmseminar näher. Sie sitzen nebeneinander im Kino, um sich einen Film anzusehen, der zum Seminarprogramm gehört. Susanne hat Schokoladenbonbons dabei, die – so der Erzähler – "für einen engeren Kontakt zwischen uns sorgten. Denn Susanne hielt die Tüte geöffnet auf dem Schoß, und ich durfte mich bedienen, was ich meistens dann tat, wenn sie es auch tat. So dass sich unsere Finger trafen, was wir geschehen ließen, genauso wie wir es geschehen ließen, dass sich unsere Finger ineinander verhakten. Je weniger Bonbons in der Tüte waren, umso mehr verhakten sich unsere Finger ineinander, und in gewisser Weise waren wir, als wir beim letzten Bonbon angekommen waren, schon unwiderruflich ineinander verhakt." Das letzte Bonbon teilen sie sich dann küssend und lutschend auf. Köstlich geschrieben! Wer Woody Allens Humor in seinen besten Filmen mag, genießt auch Treichels Witz. 

Erik besitzt offenbar eine große Anziehungskraft auf Menschen, besonders auf Frauen. Auch Andreas bewundert Erik insgeheim, sucht seine Freundschaft, aber sie werden keine Freunde. Weder gegenseitige Sympathien oder tiefere Vertrautheit noch ausgeprägte gemeinsame Interessen binden sie freundschaftlich aneinander. Mit Ausnahmen: Beide sind Filmliebhaber und beide zieht es zum Studium nach Westberlin. Aber ohne dass dadurch in dieser geteilten "Ausnahmestadt" so etwas wie eine Freundschaft entsteht. Jeder geht seine eigenen Wege, sie verlieren sich aus den Augen. Aber nicht aus dem Sinn. Jedenfalls trifft das auf Andreas zu. Während seiner Studienzeit sehen sie sich allerdings nur ein einziges Mal. In einem Café und Andreas ist überrascht. Erik studiert gar nicht, sondern macht eine Ausbildung zum Tischler, um anschließend Architektur zu studieren. Sein Berufsziel: Filmarchitekt, Filmkulissen bauen. "Hobelbank und Glamour. Sägespäne und Glanz." Ich-Erzähler Andreas ist von Eriks Zukunftsplänen beeindruckt: Erik hatte es wieder einmal geschafft, "mir zu zeigen, wie man richtig lebte."

Sie sehen sich viele Jahre gar nicht mehr. Anderthalb Jahrzehnte sind vergangen, als Andreas wieder den Kontakt zu Erik sucht. Sie telefonieren miteinander. Dann sehen sie sich zufällig im "Charlotte", einem Lokal, in dem zunehmend Prominente verkehren. Zum Beispiel auch der Schauspieler Klaus Kinski, dem es dort aber überhaupt nicht gefällt. Ihn zitiert der Erzähler in wütendem Kinski-Deutsch: "In diese Pissbude gehe ich kein zweites Mal." Erik hat sich verändert. Eine "tiefe und nicht gut verheilte Narbe" ist neben der Schläfe zu sehen. Erik ist sehr erfolgreich im Filmgeschäft unterwegs, weltweit, kennt die Stars und bewohnt in Charlottenburg eine große Acht-Zimmer-Wohnung. Andreas – inzwischen promovierter "Fachdidaktiker" für Französischlehrer – hat sich gerade von Susanne getrennt. Ihr unerfüllter Kinderwunsch war zum Problem in ihrer Beziehung geworden. Da Andreas noch keine neue Wohnung gefunden hat, bietet ihm Erik seine Wohnung als vorübergehende Bleibe an. Er gehe für drei Monate in die USA, um dort zu arbeiten. Andreas freut sich über das Angebot und bezieht Eriks Wohnung. Und es kommt noch schöner: Eines Tages ruft tatsächlich Hélène an, die atemberaubende Filmschönheit, für die Andreas schon sein Leben lang schwärmt. "Leibhaftig am Telefon." Für Andreas wird ein Traum wahr, den er sich von Erik nicht verderben lassen möchte.

Andreas scheint in einer unerfüllten Lebenssphäre gefangen zu sein, die das so unscheinbare Wörtchen "fast" zutreffend beschreibt: Fast war er so wie Erik, fast wären sie Freunde geworden, fast hätte er seinen Berufswunsch erfüllt, fast hätte seine Ehe geklappt, fast wäre er Vater geworden, fast wäre er der Liebhaber von Hélène geworden, fast, fast ... Und Erik? Ja, wie steht es wirklich um Erik? Es scheint da ein paar Geheimnisse zu geben.

"Schöner denn je" ist vielleicht nicht Treichels bestes Buch. Aber es macht große Freude, den Roman von Anfang bis Ende zu lesen. Zügig, ohne das Buch zwischendurch länger beiseitezulegen.


von Karl Hackstette - 03. August 2021
Schöner denn je
Hans-Ulrich Treichel
Schöner denn je

Suhrkamp 2021
175 Seiten, gebunden
EAN 978-3518429730