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Jutta Kranich-Rittweger: Haufenwerfer

Natur und Endlichkeit – Lyrische Seelenkunde

Jutta Kranich-Rittweger, eine Lyrikerin und Erzählerin aus Thüringen, bricht ins weite Land der Seele auf, begleitet von Erfahrungen in und mit der Natur, versehen mit poetisch geformten Reflexionen, in denen ihre frühere Tätigkeit als Pfarrerin, somit also geistliche Begleiterin, aufscheint. Auch die tiefe Vertrautheit mit inwendig verwundeten wie körperlich leidenden Menschen wird sichtbar. Heute arbeitet die Dichterin als Psychotherapeutin. Sie schreibt nicht beiläufig, aber aus beiläufig angefertigten Notizen entstehen symbolhafte Naturbilder und tastend anmutende, poetisch gestaltete Einsichten über Lebens- und Leidenswirklichkeiten. 

"Ohne Schuhe", behutsam und leise, spaziert ein lyrisches Ich über eine Wiese, die nicht künstlich eingehegt, aber überreich von "Gänseblümchen" ist, die "erhobenen Hauptes"  die "Zugabe" erbitten, also den zweiten, zart schwebenden Schritt ins Grüne hinaus. Überhaupt ist die Dichterin Gärten sehr zugetan, fühlt sich in der Natur zu Hause und kehrt erinnernd heim in das ferne Land ihrer Kindheit:

"Als Kind wärmte ich mich
mit staunenden Blicken
im versummten Garten,
an leicht duftenden Linden;
mein Kleid klebt noch fest,
umflogen von blauen Libellen,
die Glühwürmchen als Schwarm."

Die Welt der Natur schenkt ein bergendes Obdach, immer wieder schimmert auch der eigene Horizont, das elterliche Pfarrhaus wie die eigene Profession als Seelsorgerin, durch die Verse hindurch. Manchmal scheint es, als ob der große Gärtner – Gott also, biblisch gedacht – auch nahe oder doch zumindest nicht in unerreichbarer Ferne ist. 

Die Natur spricht in "rauschhaften Klängen", bleibt aber dezent, nicht zudringlich und umhüllt das lyrische Ich, das in ihr zu Hause ist, auch zu Hause sein möchte, ganz sanft – "die laut gefüllten Tage / verbergen sich im grünen Atem", so auch im Darßer Wald, wenngleich diese Darlegung zwar poetisch, aber zugleich stilisiert und ein wenig verklärt wirkt. Ist das nicht zu einfach gedacht? Draußen eine drängende, strapaziöse und tosende Welt, drinnen – buchstäblich – im Wald, in der Natur, ein gemütvolles, friedliches Zuhause? 

Den Vögeln gilt die nahezu uneingeschränkte Bewunderung der Autorin:

"Vögel wissen, außer
der diebischen Elster,
den Vorrat aus Sorgen
nicht zu sammeln,
wie sperriges Heu,
in eine große Scheune."

Ja, Menschen schichten ihre Kümmernisse auf, bleiben in Sorgen eingesponnen und hüten diese Belastungen sehr aufmerksam. Diese inneren Scheunen dafür werden groß und größer, doch niemand vermag sich von Sorgen zu ernähren. Erden-, ja bleischwer wirkt so das menschliche Dasein, eingefügt in die "Blautöne der Zeit". Das lyrische Ich streckt sich nach oben aus:

"Ich versuche, die Möwe zu berühren,
als fände sich nur in der Berührung der Himmel."

Ein ausgesprochen karges Gedicht über den Tod klingt prägnant – vielleicht macht es die Ratlosigkeit unserer Rede über die Endlichkeit sichtbar –, in der Sinfonie mit den anderen Dichtungen indessen wirkt es stimmig, wie ein Akzent oder eine Nuance. Doch bei "Uniklinik" setzt sicher so mancher Leser gedankenvoll ein Fragezeichen, ob ein Gesicht "von verlorenen Haaren geschmückt" sein kann. 

Nahezu majestätisch, in gebotener Dezenz, wird über die "Kammermusik", damit auch über die Musik des Lebens, gedichtet:

"Der alte Cellist
erstreicht sanft
Lieder ohne Worte
mit Raum für Spinnennetze
voller Wehmut,
die binden sich zum Strauß
der Erinnerung in dir.
Du gehst in deine Kammer
und betest Musik."

Hermann Broch ließ seinen letzten Roman "Der Tod des Vergil" damit ausklingen, dass sich am Ende etwas zeige oder andeute, was "jenseits der Sprache" liege. In diesem Gedicht weist Jutta Kranich-Rittweger auf die Sprache der Musik hin, in der vielleicht etwas spürbar wird, für das wir letztlich keine hinreichenden Worte mehr haben. Wie schal können Gebete klingen. Der alte Cellist betet darum Musik, verborgen vor der Welt. Dieser Gedichtband erzählt auf gewisse Weise naturhaft von der Schönheit und Endlichkeit dieser Welt. Die Poetin wählt Verse, die weder monumental-feierlich noch wuchtig glaubensvoll ertönen. Sie dichtet zumeist scheu, auf ihre Weise, sehr ernst, aber nicht ohne Hoffnung.


von Thorsten Paprotny - 02. September 2021
Haufenwerfer
Jutta Kranich-Rittweger
Haufenwerfer

Mitteldeutscher Verlag 2021
160 Seiten, broschiert
EAN 978-3963115417