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Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen

Putin, Orbán, Hans Adam zwei - 
Ein Roman über die putzige Diktatur gleich nebenan

Ein Land, 160 Quadratkilometer, 35'000 Liechtensteiner. Jetzt hat einer von ihnen ein Buch geschrieben, "mit mehr Buchstaben, als es dort Einwohner gibt."  So endet die Kritik an Benjamin Quaderers Debütroman in einem der großen deutschen Feuilletons. Fehlt nur noch der Hinweis an den Konsumenten, sich rasch das Buch zu besorgen, vielleicht noch zu lesen, und es dann ins Regal zu stellen, zwischen die österreichischen und Schweizer Romane.

Man kann den liechtensteinischen Roman auch ernst nehmen. Für immer die Alpen ist Benjamin Quaderers Eintritt in die Literatur, nichts weniger. Vielleicht ist das Buch sogar der größte Dienst, den ein Liechtensteiner seinem Land leisten kann. Dem Land, nicht dem Staat.

Quaderer ist erst dreißig. Gut die Hälfte seines Erwachsenenlebens wird er an diesem Erstling gearbeitet haben. Er hat unzählige Quellen beackert, die er auch alle angibt. Sein Werk ist so authentisch und nah an der Wahrheit, dass er, um nicht paragraphenreitenden Schwarzroben und deren Klagefreude ausgeliefert zu sein, im Abspann ausdrücklich versichert, das Buch sei ein Roman, ein literarisches Werk.

Klar ist es das. Das Buch zu lesen ist ein Vergnügen, und das Ende macht traurig, wenn ein kaputter Held zurückbleibt, dessen Leben längst gelebt ist, obwohl er, statistisch betrachtet, noch drei Jahrzehnte hinter sich bringen muss. Den Mann hat es tatsächlich gegeben, es gibt ihn nicht mehr, jedenfalls für alle diejenigen, die nicht für einen der zwölf Geheimdienste arbeiten, denen er sich nach seinem Abschied aus Liechtenstein anvertraute und die ihm zahlreiche neue Wohnort, Namen und Existenzen besorgten.

Der Mann, im Buch Johann Kaiser, hieß einmal Heinrich Kieber. Er war Täter und Opfer zugleich und hatte ein Leben vor seiner Tat. Dem hat sich Benjamin Quaderer angenommen und möchte ihm mit seinen "fiktiven Aufzeichnungen" (die so fiktiv nicht sind, wie es der Klappentext glauben machen will) gerecht werden. Nicht nur das ist dem Autor gelungen, und nicht nur rein ästhetische Maßstäbe sollten an sein Werk gelegt werden. Die den Roman beherrschende menschliche Tragödie, auch dies arbeitet Quaderer fein heraus, wurde erst durch das System Liechtenstein ermöglicht. Und spätestens hier sollte Schluss damit sein, den Kleinstaat allgefällig zu belächeln. 

"Das große Erstaunen, wenn wir ins Gespräch kamen", schildert Quaderer eine Alltagsbegegnung seines Protagonisten, die auch dem Autor selbst häufiger widerfahren sein dürfte, "und ich auf die Frage, woher ich stamme, den Namen des Kleinstaats zur Antwort gab: 'Steueroase', sagten sie erst, 'Bankkonto' dann, und wenn sie Liechtenstein nicht mit Luxemburg verwechselten, zum Schluss: 'Ich habe noch nie jemanden aus Liechtenstein getroffen.'"

Steueroase ist das Heterostereotyp, auf das seine Heimat reduziert wird, mangels anderer Kenntnisse. Gleichsam aus der Sicht des Landeskindes, als das er geboren, und des Staatsgegners, der er geworden ist, nutzt Quaderer seine Begegnung mit dem Leser, um eine Nachhilfestunde in Geschichte, Geographie, Politik und Landeskunde zu erteilen. Selten sind 160 Quadratkilometer, verteilt auf zwei Täler mit den Herrschaften Schellenberg und Vaduz, einst herrenlos geworden und als Schnäppchen gekauft, anschließend zu entlegen und ertraglos, um neue Begehrlichkeiten zu erwecken, mühsam durch die Jahrhunderte vegetierend und schließlich, umgeben von fortschrittlichen Republiken, zum konstitutionellen Fossil mutiert, nur um sich plötzlich, auf Basis eines Gesetzes von 1926, als Finanzplatz neu zu erfinden, so unterhaltsam dargestellt worden, dass es bis zur letzten der immerhin 592 Seiten nie langweilig wird.

Im vergangenen Jahrzehnt hat die liechtensteinische Regierung einiges springen lassen, um den Steueroasenstempel loszuwerden. Sie hätte wissen sollen, wie müßig solche Ausgaben sind. Ein unerwünschtes Image wird man selten los, indem man es mit Geld zukleistert – sondern viel eher durch  einen literarischen Glücksfall, wenn da jemand mit nonchalanter Leichtigkeit, der man die viele dahintersteckende Arbeit nicht ansieht, ein kunstvolles, facettenreiches Porträt erstellt, das die bislang wahrgenommene Eindimensionalität überstrahlt.

Nicht gut weg in Quaderers Roman kommt das Fürstenhaus. Nach dem Tod der Fürstin Gina, im Roman (ein wenig zu verklärend) dargestellt als fürsorgliche, stets die Hände über den verwaisten Knaben Johann haltende Landesmutter, weht ein anderer Wind aus dem Palast. Ihren Sohn lässt Kaisers Schicksal kalt, jedenfalls solange, wie dessen mitunter kriminellen Machenschaften nicht mit seinem Steckenpferd kollidieren. Das ist der Staatsstreich von oben: Die Art und Weise, wie Hans Adam II. – der gleichnamige Vorgänger mit der Ordnungszahl I hatte einst Schellenberg und Vaduz gekauft – per gelenkter Volksabstimmung die mühsam gewachsenen demokratischen Strukturen auf einen Schlag aushebelt und eine in Ansätzen aufgeklärte in eine absolutistische Monarchie rückverwandelt, stellt selbst abgebrühte Autokraten wie Wladimir Putin oder Viktor Orbán in den Schatten. Ärgerlich vor allem, wenn man selber zum aufrechten Drittel der Usurpationsgegner gehört und weiter in einem solchen Staat leben muss! Immerhin stimmt das Schmerzensgeld. Die Liechtensteiner, längste Zeit arme Bauern, zählen inzwischen zu den reichsten Bürgern der Erde.

Noch größer war das Schmerzensgeld an den echten Johann Kaiser. Gut vier Millionen Euro erhielt Heinrich Kieber allein vom deutschen Fiskus. Hinzu kamen die Zahlungen elf anderer Staaten, denen er die Namen ihrer Steuersünder preisgab. Wer glaubt, dass man damit glücklich werden kann, weiß zu wenig vom Leben und vom System Liechtenstein. Quaderer bringt Licht in dieses Dunkel; so erhellend und zum Nachdenken anregend, dass man die Qualität seines Romans weißgott nicht an der Anzahl der Buchstaben messen sollte.


von Ralf Höller - 07. Mai 2020
Für immer die Alpen
Benjamin Quaderer
Für immer die Alpen

Luchterhand 2020
592 Seiten, gebunden