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Hans-Erhard Lessing: Das Fahrrad

Kulturgeschichte der freedom machine

"I want to ride my bicycle" sang Freddie Mercury von Queen Ende der Siebziger und das gilt heute genauso wie schon vor 200 Jahren. Denn schon damals wurden einem als "Bicyclist" Steine in den Weg gelegt, wie Hans-Erhard Lessing in dieser hier vorgelegten Kultur- und Sozialgeschichte auf äußerst amüsante und unterhaltsame Art und Weise nachweist. Aber wir Fahrradfahrer, ja, der Rezensent zählt auch dazu, sind gar keine "kleine, radikale Minderheit", sondern - wenn man China mitzählt - sogar in der Mehrheit. Warum aber werden erst jetzt, im 21. Jahrhundert, die Straßen wieder für uns geräumt?

200 Jahre freedom machine

Ein Blick zurück zeigt, dass nicht nur Sittenwächter und Moralapostel etwas gegen das Fahrradfahren hatten, sondern auch Kutscher und Automobilisten. Dabei sollten gerade letztere den Fahrradfahrern dankbar sein, denn ohne die technische Entwicklung des Velos wäre wohl auch das Auto erst viel später erfunden worden. Das 19. Jahrhundert gehörte jedenfalls noch ganz den Velocyclisten, die auf ihrer "freedom machine" zuerst vor allem dem Pferd ernsthaft Konkurrenz machten. Denn Velos mussten nicht gefüttert werden und zudem reiste man damit sogar schneller von A nach B, wie ein Wettbewerb des Deutschen Radfahrer-Bundes (DRB) 1893 ergab. Ein Distanzritt der kaiserlich-königlichen österreichischen Kavallerie hatte im Jahr zuvor ergeben, dass die Strecke Wien - Berlin von einem Reiter in 71 Stunden und 35 Minuten bewältigt wurde. Die Bicyclisten des DRB schafften es in nur 31 Stunden. Und ihre "Pferde" starben nicht dabei. Die Reiter mussten ihre Pferde nämlich nach dem Wettbewerb erschießen: sie waren an Erschöpfung verendet.

Jason & the Scorchers

Der Autor, der auch eine Monographie zu Karl Drais, dem Vater des LODAs (locomationund dada ("Steckenpferd")) verfasst hat, erzählt eine spannende Geschichte des Fahrrades und zeigt, dass immer wieder auch die Politik eine gewisse Rolle spielte. Denn Drais war ein aufrührerischer Demokrat und Staatsfeind ("1848"!) gewesen, dessen Erfindung wohl auch deswegen im Inland wenig geschätzt wurde, schließlich sorgt seine Draisine auch für eine Demokratisierung der Welt und zudem für die Emanzipation der Frau. Die Velozipede, hobby horses oder pedestrian curricle und auch dandy horses verursachten gesellschaftliche Veränderungen, die wesentlich zur Moderne beitrugen, ja diese sogar erst ermöglichten. Der erste Personenzug startete ja erst 1825 durch und das Automobil erst ein Jahrhundert später.

Lessing zeichnet sowohl die technische als auch die soziale Entwicklung des Individualfahrzeuges nach und vergisst nicht, auf die kulturellen Implikationen einzugehen, so etwa auf den Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Entwicklung: drüben wurde mit Haussmann makademisierte Schneisen durch die Städte geschlagen, hüben mussten Radler die Gehsteige benutzten, wollten sie nicht im Matsch rutschen. Das Rennen um die besten Räder zwischen Frankreich und Deutschland und wer das Rad nun eigentlich (neu) erfunden habe, wird übrigens eindeutig entschieden: England. Dort nannte man die auch bei uns leider verbreitete Abart der Radler "scorchers": Raser. Diese sind übrigens um nichts besser als die (rasenden) Autofahrer, wenn es um verantwortungsvolle Verkehrspartizipation geht.

Der homo automobilis

Es folgten deswegen auch oft Fahrverbote im innerstädtischen Bereich für Fahrradfahrer und selbst Prominente konnte sich eine gewisse Ächtung des Rades nicht verkneifen: Man solle immer "auf etwas Weichem absteigen, manche Leute empfehlen ein Federbett, aber ich finde einen Experten besser", ätzte etwa Mark Twain nicht ganz frei von Ironie über die damals verbreiteten Fahrlehrer und Radkarusselle (!).

Hans-Erhard Lessing erzählt in amüsanter und höchst unterhaltsamer Weise voller Bonmots und Anekdoten eine wunderbare Geschichte und vergisst auch nicht, auf die gesundheitlichen und medizinischen Aspekte des Rades einzugehen oder zählt akribisch die Gewinner und Verlierer des Fahrrad-Zeitalters auf - dazu gehörten z. B. auch die Barbiere, wie Lessing unterhaltsam-amüsant erzählt. Auch wenn das Kapitel zum 20. Jahrhundert etwas kurz geraten ist, das nächste Buch - zum 21. Jahrhundert - wird wohl schon geschrieben. Denn das Fahrrad boomt im 200. Jahr seines Bestehens wie nie zuvor und vielleicht dürfen wir es noch erleben, dass der homo automobilis die Innenstädte wieder übernimmt, so wie Ende des 19. Jahrhunderts. Das "auto" in automobilis ist nämlich Griechisch und bedeutet: "selbst", im Sinne von selbstbetrieben. Wie schön wären unsere Städte dann wieder, wie sauber, wie ruhig!


von Juergen Weber - 28. November 2017
Das Fahrrad
Hans-Erhard Lessing
Das Fahrrad

Eine Kulturgeschichte
Klett-Cotta 2017
255 Seiten, gebunden
EAN 978-3608913422
mit zahlreichen Abbildungen