Hadley Vlahos: Zwischen den Welten

Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod

Der postmoderne Mensch, scheinbar selbstbewusst, aufgeklärt und auch seiner selbst bewusst, leidet an Ängsten, die oft verborgen sind, die er auch vor sich selbst verstecken möchte. Besondere Furcht erweckt der Gedanke an die Endlichkeit. Der eigene Tod, aber auch die Begegnung mit Mitmenschen, deren Abschied von der Welt unmittelbar bevorsteht, führen zu einem oft traurigen Fluchtverhalten. Scheuen wir uns vor der Antwort auf die Frage, ob mit dem Tod alles zu nichts zerfällt? Ist jegliche Hoffnung darauf zerstoben, dass wir uns – wie immer das sein mag – doch einmal wiedersehen? Die Hospizschwester Hadley Vlahos erzählt sensibel, einfühlsam und jederzeit taktvoll von Grenzsituationen, von der Schwelle zwischen Leben und Tod, von einem Stadium des Übergangs, vor dem wir uns nicht fürchten müssen.

Manche Menschen erleben, kurz bevor sie heimgehen, einen „Energieschub“. Angehörige denken, der Sterbenskranke könne noch genesen. Ein bettlägeriger Patient steht auf und geht umher. Ein Zeichen für ein Wunder? „Wer aber Bescheid weiß“, so erzählt die Autorin, „erkennt darin ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Tod unmittelbar bevorsteht und vermutlich in den nächsten Tagen eintreten wird.“ In der Hospizpflege werden solche Erfahrungen sichtbar und spürbar. Der Patient dämmert sodann, öffnet auch die Augen, freut sich über die „Lieblingskrankenschwester“, lächelt, er, der „Lieblingspatient“, der so vertraut ist wie der eigene Großvater. Noch in derselben Nacht geht er für immer nach Hause. Schwester Hadley berichtet von ihrem Besuch mit der Ehefrau: „Mary und ich gingen zusammen in Carls Krankenzimmer, das ohne das Flimmern des Fernsehers ganz dunkel war. Ich machte Licht, und dann schauten wir auf Carls leblosen Körper. Ich setzte das Stethoskop auf seine Brust, wie ich es so viele Male getan hatte. Dieses Mal blieb das vertraute Pochen in meinen Ohren aus. Ich schaute nicht in sein lächelndes, wettergegerbtes Gesicht. Nicht dieses Mal. Dieses Mal war da nur Stille. Leere.“ Die Witwe und Hadley kleiden den Verstorbenen an. Sie möchten ihm eine Krawatte umbinden, sind aber beide dazu außerstande. Beide beginnen zu lachen. Eine wunderliche, ja verwunderliche Situation? Ein Hoffnungszeichen folgt. Die Bestatter treffen ein, der Verstorbene wird in den Sarg gebettet. Als der Leichenwagen bald darauf wegfährt, beginnt ein blauer Vogel zu singen: „Er zwitscherte ein paar Mal fröhlich und flatterte dann davon. Zutiefst gerührt sah ich zu, wie der Vogel neben dem Leichenwagen herflog.“

Menschen, die nicht mehr ganz auf Erden zu sein scheinen, wirken mitunter so, als wären sie dabei, nur die Räume zu wechseln oder sich in eine unzugängliche Sphäre zu begeben, an der sie todkrank bereits schon Anteil an dem gewonnen haben, was sich vielen Pflegekräften und Angehörigen nicht oder nur sehr bedingt erschließt. Die Autorin berichtet von Alzheimerpatienten, die „körperlich noch immer in dieser Welt sind“, doch ab einem gewissen Zeitpunkt bereits „mit beiden Beinen“ dort seien, „wohin wir alle als Nächstes unterwegs sind, auf der anderen Seite“. Sie würden als „Kleinkinder“ betrachtet, die „nicht wissen, was vorgeht“, entwickeln aber zugleich eine hohe Sensibilität für bestimmte Wahrnehmungsweisen und Ereignisse sowie ein Gespür für Außergewöhnliches, das sonst niemand bemerkt oder einzuordnen vermag. Auch wer von Medizin und Wissenschaft überzeugt sei, wie Hadley Vlahos, müsse zugestehen, dass viel, aber nicht alles erklärt werden könne. Tod und Sterben werde als „etwas sehr Ernstes, mehr oder weniger Dunkelgraues“ angesehen, doch es gebe auch viele humorvolle Momente in diesen Lebensphasen, die auch wirklich – selbst in Stunden schwerer Leiden – Lebensphasen, Lebenszeugnisse sind, unvergesslich, berührend, und manchmal so, als ob sich eine Tür nach anderswohin auftäte: „Über die Jahre hindurch habe ich mich daran gewöhnt, dass manche Dinge einfach geschehen, auch wenn ich nicht weiß warum und keine logische Erklärung dafür habe. Ich habe gelernt, an diese Dinge zu glauben.“

Sterbende machen ihre Erfahrungen, und oft können diese nicht oder nicht auf eine Weise mitteilen, die dem alltäglichen Denken entspricht. Manches bleibt auch schwerlich aussagbar, verliert aber deswegen nichts von seiner Bedeutung oder seiner Realität, für alle Beteiligten und Betroffenen. Hadley Vlahos berichtet von den Erfahrungen von Besuchen, die nur zu leicht als Halluzinationen abgetan werden könnten. Der Leser wird zuinnerst still, nachdenklich und staunt: „Ich glaube, dass unsere Lieben kommen und uns abholen, wenn unsere Zeit gekommen ist. Ich glaube nicht, dass dies das Resultat einer chemischen Reaktion im Gehirn ist, die sich in unseren letzten Stunden einstellt. … Diese Besuche aber sind für die erlebenden Patienten absolut deutlich und konkret. Halluzinationen lösen Ängste, ja Panik aus. Diese Besuche aber schenken Ruhe und Frieden.“ So ließe sich sagen, dass in diesen Augenblicken des Sterbens ein Friede gegenwärtig ist, der über diese Welt hinausreicht.

Hadley Vlahos ist überzeugt davon, „dass es nach diesem Leben durchaus etwas gibt“, das mit einem Begriff wie Jenseits unzureichend beschrieben wäre, doch eine Wirklichkeit, von der gläubige Menschen vielleicht eine Anschauung oder eine Bezeichnung haben mögen. Beschrieben werden in diesem Buch Wahrnehmungsweisen und auch Übergänge, die traurig und zugleich tröstlich sind, die auch zeigen, dass es gut ist, sich die Hoffnung zu bewahren, dass die Reise unseres Lebens nicht mit dem Tod enden muss, sondern dass die Erfahrung einer Geborgenheit besteht, die sich mit nichts Irdischem vergleichen lässt. Niemand muss, jeder darf daran glauben.

Dieses ausgesprochen lesenswerte Buch lädt ein, über Leben und Tod nachzudenken und sich vor der Endlichkeit nicht zu ängstigen. Zugleich ist dieser Band ein Zeugnis für Mitmenschlichkeit und für die Schönheit des Lebens bis in die Sterbestunde hinein, möglicherweise auch darüber hinaus. Wer lebt und liebt, darf hoffen – und all jene, die noch von Skepsis beherrscht sind, können sich in aller Freiheit auf eine neue Perspektive des Denkens, Empfindens und Lebens einlassen. Die kluge, sensible und religiös musikalische Hospizschwester Hadley Vlados zeigt nämlich allen Gläubigen, Zweiflern und Agnostikern, was wir von Sterbenden über das Leben lernen können.

Zwischen den Welten
Elisabeth Liebl (Übersetzung)
Zwischen den Welten
Was ich als Hospizschwester über die Grenze zwischen Leben und Tod gelernt habe
290 Seiten, gebunden
Originalsprache: Englisch
Kösel 2024
EAN 978-3466373277

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